Tenderena der Phantast ist so etwas wie Hugo Balls ‚Opus magnum‘. Auch wenn ‚magnum‘ angesichts der knapp 60 Seiten, die das Werk umfasst, etwas übertrieben scheint, ebenso wie die Einordnung in die Kategorie ‚Roman‘: Ball hat sein Werk selber Roman genannt, also lasse ich es bei dieser Kategorie; und Tenderenda der Phantast ist tatsächlich das grosse Vermächtnis des Dadaismus, der sich ja ansonsten vor allem ex promptu auf der Bühne des Cabaret Voltaire in Zürich seines kurzen Lebens erfreute.
Man kann Tenderenda auch autobiografisch lesen; tatsächlich ist die im Titel genannte Hauptperson ein Dichter, ein Künstler, und in vielem identisch mit Hugo Ball. Man kann Tenderenda auch als Geschichte des Dadaismus lesen, hat doch Ball bereits 1914 mit dem Buch begonnen und es erst 1920 – als der Dadaismus bereits tot war – abgeschlossen. Zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat er es nie, nach seinem Tod hielt es seine Witwe unter Verschluss, und so ist es erst 1967 postum veröffentlicht worden – 40 Jahre nach Balls Tod und 20 Jahre nach dem Tod seiner Frau, aber (theoretisch) gerade rechtzeitig, um der neuen Jugendbewegung und der sog. ‚Aktionskunst‘ Input geben zu können. Ball selber hatte sich bereits 1920 wieder dem Katholizismus zugewandt und war an seiner dadaistischen Vergangenheit kaum mehr interessiert; diesen Roman allerdings hätte er wohl dennoch gern publiziert gesehen. Nur: Das Interesse der Verlage war gering.
Inhaltlich wird in Form von surrealen, (alp-)traumhaften und kurzen Sequenzen das Schicksal einer kleinen Gruppe von Enthusiasten erzählt. Wofür sie genau enthusiasmiert sind, wird nicht klar; ebenso wenig was ihr Schicksal genau ist. Wir haben im Grunde genommen eine Folge lockerer Assoziationen vor uns. Man könnte mit einem (ebenfalls in den 1960ern aufgetauchten!) pseudo-philosophischen Begriff von der ‚Dekonstruktion‘ der Sprache bei Ball sprechen. Das hätte bei Hugo Ball sogar mehr Berechtigung als bei so manchen anderen: Er, der auch Bakunin gelesen und übersetzt hatte, verstand sich zu jener Zeit durchaus (auch) als Vertreter eines philosophischen Anarchismus und seine Kunst als eine Form, die überkommenen Verhältnisse und Formen so aufzubrechen, dass eine neue Gesellschaft hätte entstehen können. Allerdings hat Ball (ich weiss nicht, ob als Folge der Resultate, die er in Russland hat aus dem Sieg der Linken – z.T. eben auch aus einem, allerdings terroristisch ausgerichteten Anarchismus stammend – entstehen sehen) sich nie wirklich politisch engagiert, und später (wie gesagt) lieber mittelalterliche Mystiker studiert wie die Gegenwart.
Meine Ausgabe ist 2015 in der Typographischen Bibliothek erschienen, ein Gemeinschaftswerk der Büchergilde und des Wallstein-Verlags. Wie es sich für eine ‚typpographische Bibliothek‘ gehört, wurde auf den Schriftsatz grossen Wert gelegt, dieser auch künstlerisch – also im vorliegenden Fall dadaistisch angehaucht – ausgelegt: Der Text ist in (manchmal von Satz zu Satz) wechselnder Schriftgrösse gesetzt; dem eigentlichen Text folgt eine Serie von Montagebildern zu Satzfetzen Balls, die, wenn ich dar richtig sehe, von Klaus Detjen stammen, der auch sonst den Satz verantwortet und als Herausgeber des Bands fungiert. Eckhard Faul hat ein Nachwort beigesteuert. Ebenfalls beigesteuert wurde ein Faltplakat zu Hugo Balls Lautgedichten – seiner grossen dadaistischen Errungenschaft.
Ein durch Inhalt wie Gestaltung faszinierendes kleines Opus magnum – auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich diese Kunstform im Übergang vom Expressionismus zum Dadaismus zum Anarchismus in grösseren Dosen wirklich schätzen könnte. Die hier aber hat gerade den richtigen Umfang.
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