Karl Philipp Moritz – Erfahrungsseelenkunde

Karl Philipp Moritz wird oft als der Erfinder oder Entdecker der Psychologie im heutigen Sinne gehandelt. Das ist – teilweise – ein Missverständnis. Wohl spricht und schreibt Moritz in seinen theoretischen Schriften des öfteren von eben dieser Erfahrungsseelenkunde. Allerdings ist sein ‘Forschungsziel” weniger psychologischer, sondern eher psychotherapeutischer, im Grunde genommen aber pädagogischer Natur. Es kommt nicht von ungefähr, dass wichtige seiner Schriften zur Erfahrungssseelenkunde zu der Zeit geschrieben wurden, als Moritz selber Lehrer war. Dennoch soll ihm der Ruhm, der erste Psychologe gewesen zu sein, nicht genommen werden: Moritz’ Herangehensweise war neu; er legte als erster in der Beschreibung menschlichen Verhaltens das Gewicht auf die Erfahrung – sprich: die konkrete Beschreibung der beobachteten Verhaltensweisen bzw. der Art und Weise, wie der Pädagoge auf diese eingegangen war. Daraus erst versuchte er Regeln abzuleiten, wie in ähnlichen Fällen auf die ‘Patienten’ einzugehen wäre.

So beobachtete er einen Taub- und Stummgeborenen, mit dem Ziel, etwas darüber herauszufinden, wie dessen Verhältnis zu Gott und der Welt sei, da er ja von den ‘natürlichen’ Informationsquellen anderer Kinder abgeschnitten war. Allerdings hatte der zur Zeit, als Moritz ihn kennengelernte, dennoch schon von anderer Hand etwelche Zeichen und Begriffe über Gott und die Welt erhalten, und Moritz’ Experiment, dass er sich vor ihm als rabenschwarzer Atheist gerierte, beweist in den Rektionen des armen Kindes nur, dass es schon gewaltig von andern indoktriniert worden war, nicht aber, dass da irgendwelche ‘eingeborenen Ideen’ vorhanden gewesen wären, was auch Moritz zugibt (Die natürliche Religion eines Taubstummen).

Besser gelang es ihm, einen jungen Mann, der auf Biegen und Brechen als Schauspieler zum Theater gehen wollte, davon abzuhalten. Der junge Mann bleibt anonym, und ich weiss nicht, ob Moritz hier nicht letzten Endes schildert, wie er gern behandelt worden wäre, als er selber in seiner Jugend diesen unbändigen Drang zum Theater verspürt hatte. Jedenfalls hat Moritz in diesem Fall so etwas wie die ‘paradoxe Intervention’ erfunden. Statt, wie alle andern, auf den jungen Mann einzupredigen von seinem verderblichen Vorhaben abzulassen, bestärkte er ihn in jeder Hinsicht, suchte zum Beispiel gemeinsam mit ihm die Schauspieltruppe aus, der er beitreten sollte etc. etc. Damit verpuffte die Energie des jungen Mannes, dessen Hauptmotivation offenbar darin bestanden hatte, für einmal den eigenen Willen gegen den seiner Erziehungsberechtigten durchzusetzen, und er blieb brav zu Hause.

Daneben interessierte sich Moritz auch sehr für die Sprache. Z.B., woher nehmen die Wörter ihre Bedeutung? Weit kommt der Polyhistor Moritz allerdings nicht in seinen Untersuchungen: Die Wörter erwecken Anschauungen in uns. Daraus nahm Moritz Stoff für assoziative, sprachgeschichtliche und etymologische Spielereien. (‘Spielereien’ aus heutiger Sicht, zu seiner Zeit war die Sprachwissenschaft noch Neuland, auf das sich gerade erste ernstzunehmende Forscher wagten. Und eine ‘Psycholinguistik’ bzw. Zeichentheorie sollte erst das 20. Jahrhundert entwickeln.)

Ein wissenschaftsgeschichtlich in vieler Hinsicht interessanter Schlussteil von Band 1 meiner Werkausgabe (Bibliothek deutscher Klassiker 159).

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