Die Autobiographie ist ein recht langweiliges Werk. In gedrechselten Sätzen beschreibt die Autorin ihren Werdegang und umgeht kaum einen Fallstrick dieses sensiblen Genres. So berichtet sie von Dingen, die sie offenbar nicht wissen kann (sondern aus Erzählungen kennt), stilisiert und beschönt ihre Entwicklung, bleibt immer in einer gewissen Distanz zu sich selber, wodurch man nirgendwo das Gefühl bekommt, dem Menschen Keller nahezukommen. Das meiste sind Phrasen, Platitüden, die Sprache ist die einer gymnasialen Vorzugsschülerin, geschult an klassischen Beispielen und ohne jede persönliche Note.
Auch die Briefe sind nichts Besonderes: Aber immerhin ein authentisches Zeugnis der sprachlichen Entwicklung. Wirklich interessant ist hingegen das Nachwort mit den zahlreichen eingestreuten Briefen von A. Sullivan, die ein ganz anderes, sehr lebhaftes und nachvollziehbares Bild von der Entwicklung Helen Kellers geben. Sullivan gebührt ein nicht zu unterschätzender Anteil am Erfolg Kellers: Einfühlsam und mit einer großen Portion Hausverstand macht sie sich an die Erziehung der 7jährigen, versteht es, eine persönliche Beziehung zu entwickeln und emanzipiert sich zusehends von vorgegebenen Richtlinien. Schon nach wenigen Monaten schreibt sie: „Ich beginne allen ausgeklügelten pädagogischen Systemen zu mißtrauen. Sie scheinen mir auf der Voraussetzung aufgebaut zu sein, daß jedes Kind eine Art Idiot ist und im Denken unterwiesen werden muß, während es, wenn es sich selbst überlassen bleibt, mehr und besser denken wird, wenn es auch nicht so in die Augen fällt.“ Schon nach kurzer Zeit wurde das kleine Mädchen als Genie gefeiert, in den USA erschienen abstruse Zeitungsartikel und wundersame Berichte, aber Sullivan gelang es, ihre Schülerin möglichst lange von diesem Medienzirkus fern zu halten.
Helen Keller musste als 7jährige die Welt erfahren wie eine 3jährige, die hörend und sehend die Dinge zu benennen beginnt. Auf weiten Spaziergängen „erfühlt“ sie sich eine Welt, wird mit den Namen der Dinge konfrontiert, beginnt mir ihrer Außenwelt mittels eines Fingeralphabets zu kommunizieren. Die Welt der Sprache, der Bücher wird eine Art von Ersatzwelt: Sie repräsentiert all das, was die Sinne dem Mädchen versagen, macht die Welt zu einer verstehbaren, begreifbaren. Einmal geweckt lässt sich dieser Wissensdurst kaum noch stillen, auch wenn Keller an der Universität eine ähnliche Erfahrung macht wie so mancher, der sich auf dem zweiten Bildungsweg die Studienberechtigung erkämpft: Der von der Ferne viel bewunderte Tempel des Wissens stellt sich aus der Nähe als ein Ort dar, an dem weniger dem freien Studium gehuldigt wird als dem sturen Auswendiglernen des Lehrstoffes – und aus den allwissenden, unnahbaren Professoren werden häufig pedante, kleinliche Fachidioten, die die Freude am Studium zerstören.
Sullivan bemüht sich, ihrer Schülerin immer „alles zu erklären“: Und so kann auch die Sexualität nicht ganz ausgespart werden (und man merkt es den Briefen an, wie unangenehm ihr das war). Nur einmal weicht sie von diesem Prinzip ab: Keller als „tumbe Torin“ stellt selbstverständlich auch die unvermeidlichen Warum-Fragen und stößt auf das Problem der „ex ratione causae efficientis“, das schon seit Aristoteles die Philosophen umgetrieben hat. Denn das Mädchen ist unzufrieden mit der Antwort auf die Demiurgenfrage und fragt folgerichtig weiter: Wer hat Gott gemacht? Da nun ist Sullivan mit ihrem (Kirchen-)Latein am Ende und fragt ihre Briefpartnerin hilflos, wie man eine sich selbst hervorbringende, erste Ursache erklären solle. „Das verstehst du noch nicht“ ist also ihre Antwort – genau jener Satz, den sie sich vorgenommen hatte, nie zu verwenden. Nach der ersten Bibellektüre kommen der Kleinen dann weitere Zweifel: Zum einen scheint der liebe Gott es mit dem „Liebsein“ nicht zu haben, zum anderen kommen sich Allmächtigkeit und Allgüte in die Quere: Die Theodizee lässt grüßen. – Der weitere Gang der religiösen Sozialisation wird dann nicht mehr beschrieben: Aber irgendwann scheint man die Kleine vom „lieben“ Gott dann doch überzeugt zu haben. Aber ein schönes Beispiel dafür, dass Gott keineswegs eine „eingeborene“ Vorstellung ist und der Begriff erst dort Verwendung findet, wo alternative Erklärungsmethoden versagen.
Ohne das Nachwort und die Briefe Sullivans wäre das Buch nur schwer erträglich: So aber vermittelt es interessante pädagogische und erkenntnistheoretische Einsichten. Und das Lesen hat sich dann doch noch gelohnt.
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