Gerhard Vollmer: Auf der Suche nach der Ordnung

Vollmer hat seinem „Hauptwerk“ über die „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ einige weitere Bände folgen lassen, in denen er sich eingehend mit der Kritik an seinem Konzept auseinandersetzte (bzw. auf von einer dogmatischen Philosophiegeschichte vertretene, mittlerweile aber obsolet gewordene Themenbereiche einging, die in der Hauptsache die Unzuständigkeit der Naturwissenschaft in erkenntnistheoretischer Hinsicht behauptete). Er ist damit einer der wenigen, die sich einer solchen Kritik stellten (man denke an Heidegger oder Habermas, die sich diesbezüglich des Netstroyschen „nicht einmal ignorieren“ befleißigten, mögicherweise auch durch die – uneingestandene – Einsicht getrieben, dass eine derartige Diskussion zu einem für sie zweifelhaften Ergebnis geführt hätte).

In diesem Buch stellt er einige Grundannahmen vor, die mit seiner Auffassung einer evolutionären Erkenntnistheorie verbunden sind. Dazu gehört etwa der Naturalismus: Dieser geht davon aus, dass es überall auf der Welt mit „rechten Dingen zugeht“, dass also alle erkenntnistheoretischen und ontologischen Belange ohne Rekurs auf Transzendenz einer Analyse zugängig sind. Dies bedeutet aber auch eine naturalistische Ethik und sogar Ästhetik, nirgendwo kann von dem grundsätzlich naturalistischen Programm abgegangen werden, das kurzgefasst „soviel Metaphysik wie nötig und soviel Realismus wie irgend möglich“ in die Diskussion einbringt. Damit ist auch dem Occhamschen Rasiermesser Genüge getan, dem gerade Metaphysiker aller Couleur Hohn sprechen mit höchst abenteuerlichen transzendenten Konstruktionen. Was immer wir von der Natur verstehen, dieses Verständis führt nicht über diese Natur hinaus, bleibt der Natur immer verhaftet. Der Primat eines materiell-energetischen Aufbaus unseres Kosmos verhindert dabei auch Geist-Körper-Dichotomien: Wie Bernulf Kanitscheider bereits gezeigt hat, würde eine solche Annahme alle Physik, alle Naturwissenschaft in ihrer derzeitigen Form ad absurdum führen, selbst der „unantastbare“ Energieerhaltungssatz würde in einer Welt mit geistigen Entitäten nicht mehr gelten.

In einem äußerst informativen Abschnitt analysiert Vollmer die schon seit einigen Jahrzehnten boomenden mereologischen Konzepte (ich habe auf die Unhaltbarkeit dieser „philosophischen“ Ideen bei meiner Besprechung des Buches von Roth/Strüber hingewiesen). Die Kritik des Holismus entzündet sich vor allem am wissenschaftlichen Reduktionismus, der – ungeheuer erfolgreich – sehr viel zur Entmystifizierung des Lebens (zum Leidwesen von Esoterikern jedweder Provenienz) beigetragen hat. Aus einer Trivialität (nämlich dass Teil und Ganzes nicht dasselbe sind, was ohnehin niemals jemand behauptet hat), werden höchst abenteuerliche Spekulationen ersonnen: Als typischer Vertreter kann Fritjof Capra genannt werden (Vollmer erwähnt ihn allerdings nicht), der in seinem ganzheitlichen Ansatz bedenkenlos Mystik, Physik und New Age zu einem esoterischen Süppchen verkocht, wobei er in typischer Weise eine Art von Wissenschaftlichkeit (obwohl Wissenschaft zumeist vehement abgelehnt wird, häufig aber doch für die vermeintliche Seriosität des Vorgebrachten bürgen soll) für sich in Anspruch nimmt, in dem er Resultate der Quantenphysik dem – zumeist unbedarften Leser – als von fernöstlichen Religionen antizipierte Weisheiten präsentiert. In diesen Zusammenhang gehört auch das Phänomen der Emergenz, obschon diese Ansätze auch einen durchaus seriösen Hintergrund haben: Allerdings wird dieser Begriff in letzter Zeit inflationär eingesetzt und verleiht überall dort, wo sich überraschende Folgerungen ergeben, diesen Ergebnissen etwas Unvorhersehbares, an das Transzendente Grenzendes. Zumeist handelt es sich aber nur um Ereignisse, die wegen eines komplexen Wirkungszusammenhanges nicht prognostiziert werden konnten. Oder aber man ignoriert den evolutiven Prozess, der sukzessive zu bestimmten Phänomenen geführt hat: Beliebte Beispiele sind das Leben oder aber der Geist, die dann mit unbelebter Materie verglichen und anschließend als emergente Wunder bezeichnet werden. Wer hingegen den langsamen Übergang von sich duplizierenden Aminosäurensequenzen und Koazervaten mit semipermeabler Membran betrachtet, wird vergeblich das Wunderbare und Unerklärliche dieser Vorgänge suchen, sondern einfach auf die Chemie zurückverwiesen. Acht holistische Thesen von eher zweifelhaftem Wert stellt Vollmer vor – und äußert seine Vorbehalte gegenüber „nicht erklärbaren“ oder „nicht vorhersagbaren“ Systemeigenschaften, wobei es schlussendlich häufig von den zugrunde gelegten Definitionen abhängig ist, ob man sich einer der holistischen Thesen anschließt oder nicht. Bei all dieser „Ganzheitlichkeit“scheint es sich grosso modo um den Versuch zu handeln, reduktionistische Verfahren zu diskreditieren und mit dem Hinweis auf schwammige Totalitäten ein klein wenig Transzendenz in die (wissenschaftliche) Philosophie zu bringen.

In anderen Kapiteln werden Themen wie künstliche Intelligenz oder das transzendentale (Kantsche) Problem der Erkenntnis im Sinne der Evolutionären Erkenntnistheorie behandelt, wobei die anfangs erwähnte naturalistische Fundierung für die Untersuchungen grundlegend ist. (Vollmer prophezeiht im übrigen eine weitere elementare Kränkung des Menschen, wenn sich die KI als etwas dem menschlichen Geist Adäquates erweist.) Im letzten Kapitel wird die Plausibilität des Gotteshypothese erörtert: Wobei es für Vollmer nur die Wahl zwischen Agnostizismus und Atheismus gibt. Nach kurzer Analyse der verschiedenen Gottesbeweise will er „es sich nicht zu bequem machen und sich als Agnostiker davonstehlen“. Auch wenn die Nichtexistenz Gottes nicht bewiesen werden kann (was eine epistemologische Binsenweisheit ist), ist es aufgrund der Faktenlage unsinnig und unredlich, hier nicht Stellung zu beziehen: Weshalb er sich explizit als Atheist bezeichnet. Dass dies tatsächlich betont werden muss, dass man den Atheismus nicht als ebenso selbstverständlich betrachtet wie den A-Feeismus oder den A-Osterhasenismus (hier würde niemand die agnostische Variante auch nur in Erwägung ziehen, außer er ist – im ersten Fall – Isländer), zeugt von einer eher traurigen geistigen Verfasstheit des homo sapiens(?).


Gerhard Vollmer: Auf der Suche nach der Ordnung. Stuttgart: Hirzel 1995.

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