Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht

Roth und Strüber nähern sich dem, was da als Seele, Geist, Bewusstsein oder Ich bezeichnet zu werden pflegt, aus neurobiologischer Sicht: Allerdings wird die philosophische Seite dieses Problems nur in drei der insgesamt neun Kapitel erläutert bzw. gestreift. So ist das eher ein Buch für all jene, die sich mit den physiologischen Grundlagen des Gehirns beschäftigen bzw. mit den verschiedenen Therapieformen psychischer Erkrankungen (insbesondere Depressionen).

Grundsätzlich gehen die Autoren von einem nicht-dualistischen Weltbild aus: Sie weisen – zu Recht – darauf hin, dass „kein Dualist angeben kann, wie eine Instanz, die den Prinzipien des Naturgeschehens nicht unterliegt, mit diesem Naturgeschehen wechselwirken kann, ohne diese Prinzipien zu verletzen“. Das haben auch schon Descartes‘ Kritiker moniert und daran hat sich wenig geändert, wenn man von der vor 400 Jahren noch eher bereitwillig(er) akzeptierten Gotteshypothese absieht, der im Zweifelsfall diese wundersamen Wirkungen zugeschrieben wurden.

Interessanterweise machen Roth/Strüber bei der Suche nach dieser Seele aber immer wieder Rückzieher: Sie versuchen mit allen Mitteln den Reduktionismus zu vermeiden, der im Geist nichts anderes als neuronale Strukturen erkennt. Ein solches Vorgehen ist inkonsequent: Denn wenn es für den Geist kein neuronales Korrelat gibt, ist man zu supernaturalistischen Erklärungsmodellen gezwungen. Und so sagen sie zwar einerseits, dass „es keinen vernünftigen Zweifel daran geben kann, dass das Gehirn die Seele hervorbringt, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen des neuronalen Geschehens, angefangen von den Vorgängen an den Synapsen bis hin zu den Interaktionen des ganzen Gehirns mit dem Körper“ (S. 40), behaupten hingegen später, dass „sich Geist und Bewusstsein als immaterielles physikalisches System verstehen lassen, das sich aus „mentalen Feldern“ aufbaut, die sich raumzeitlich organisieren und so eine virtuelle Gesamtwelt erschaffen, nämlich unseren Körper, die Welt um ihn herum und den Geist in seinen vielfältigen Erscheinungsformen“.

Was ein „immaterielles physikalisches System“ ist bleibt allerdings das Geheimnis der Autoren: Die Physik des Immateriellen dünkt mir ein beschränktes Forschungsgebiet. Der Grund für diese pseudophilosophischen Bocksprünge ist einerseits das Bemühen, dem „simplifizierenden“ Reduktionismus (wohl in der Art der ersten positivistisch-materialistischen Philosopheme gedacht) zu entgehen – und liegt andererseits in recht kruden philosophischen Annahmen, die auf eine – seltsame – Kantrezeption zurückgehen. Roth/Strüber gehen von einer prinzipiellen Unterscheidung einer bewusst erfahrenen Erlebniswelt (actuality) und einer bewusstseinsunabhängigen Welt (reality) aus, die sie mit den Phainomena und Noumena Kants (in der Auslegung von Wolfgang Köhler) gleichsetzen. Daraus folgt, dass wir nur über die actuality, nicht aber die reality gesicherte Erkenntnis gewinnen können. (Das erinnert sowohl an Berkeley als auch an den Phänomenalismus Husserlscher Prägung.) Und diese Unerkennbarkeit gelte selbstverständlich auch für das (reale) Gehirn, das (und nun wird es abenteuerlich) „schon aus logischen Gründen nicht mit unserem wirklichen Gehirn identisch sein kann. Der Produzent (das reale Gehirn) kann keine echte Teilmenge seines Produktes (unserer bewusst erfahrbaren Welt) sein.“

Zum einen spukt da der Traum einer gesichterten Erkenntnis durch das reale Gehirn der Autoren: Von einer solche sollten sie sich auch in anderen Zusammenhängen trennen, den archimedischen Punkt der Erkenntnis werden sie weder in der Welt noch in ihrem (oder irgendeinem anderen) Kopf je finden. Warum sie in weiterer Folge das reale Gehirn mit dem Geist gleichsetzen wollen („kann nicht identisch sein“) bleibt auch rätselhaft (eine solche Behauptung hat meines Wissens auch noch niemand aufgestellt): Selbstverständlich ist unser reales Gehirn nicht der Geist (oder das Bewusstsein oder was auch immer). Dem Geist entspricht ein – bisher sehr unzulänglich in seinen Wechselwirkungen verstandenes – neuronales Korrelat, er ist eine Funktion desselben. Unser reales Gehirn hat aber unzählige andere Funktionen, die häufig völlig unbewusst bleiben, die Gleichung: Gehirn = Bewusstsein ist einfach Nonsens. Unzweifelhaft ist einzig, dass das Gehirn u. a. Bewusstsein hervorbringt.

An einer anderen Stelle wird dieses Bewusstsein dann als emergente Eigenschaft des Gehirns bezeichnet, wobei diese Behauptung von „Emergenz“ häufig dazu dient, etwas scheinbar völlig Unerklärliches oder auch vollkommen Neues zu postulieren. Dieses „überraschende Auftreten neuer Eigenschaften“ ist aber ebenfalls eine gern verbreitete Mär: Die Evolution macht aber keine Sprünge und wir können im Tierreich unzählige Beispiele finden von Ansätzen von Bewusstsein. Man muss sich dafür nur die konkrete Entwicklung des Menschen vergegenwärtigen: Nirgendwo in dieser Reihe gibt es ein Individuum, das nun plötzlich (aus Gründen der Emergenz) ein Bewusstsein besitzt, das seinen direkten Vorfahren noch nicht zugesprochen werden konnte. Die naturgeschichtliche Entwicklung hin zum Menschen ist ein Kontinuum und der Geist und das Selbst-Bewusstsein des Menschen kein plötzliches Ereignis, sondern eine Eigenschaft, deren Entstehung Jahrmillionen in Anspruch nahm.

Auch mit den oben erwähnten „logischen“ Gründen ist es nicht weit her: Denn eine solche Logik (dass unser Geist nicht die Funktionsweise unseres Gehirns erkennen könne, weil dieser Geist ja Teil des Gehirns sei) gibt es schlicht nicht. Ein Teil kann sehr wohl Kenntnis des Ganzen erlangen, weil eine solche Erkenntnis auf Abstraktion und Komplexitätsreduktion beruht. (Der Grundirrtum Roths – wie vieler anderer in dieser Form Argumentierender – besteht darin, dass er zu glauben scheint, man müsse, um das Gehirn völlig zu verstehen – den augenblicklichen Zustand aller neuronalen Verbindungen und das den Geist Verursachende in allen Einzelheiten kennen: Das wäre selbstredend unmöglich.) Unser Gehirn aber ist keine zufällige Zahlenfolge, deren kürzeste Darstellung die Zahlenfolge selbst ist: Sondern es gehorcht bestimmten Gesetzen, ist unserem abstrahierenden Denken zugängig und kann selbstredend (theoretisch) verstanden werden (auch wenn wir nie mit Sicherheit werden sagen können, ob unser Verständnis tatsächlich richtig ist: Das aber ist eine Trivialität)*. Die Erkennbarkeit der Welt (und des Gehirns) beruht auf deren partieller Gleichförmigkeit und auf unserer Fähigkeit zu Abstraktionen: Schon die aristotelischen Begriffsbildungen der differentia specifica, accidentalis und numerica sind nichts anderes als Regeln zur Ordnung der Welt.

Dass ich diesen philosophischen Nonsens hier einigermaßen ausführlich beschrieben habe liegt an einem Satz, mit dem Roth/Strüber ihre Ausführungen zur Teil-Ganzes-Problematik (zu der es noch sehr viel mehr zu sagen gäbe, gerade philosophisch Halbgebildete glauben häufig auf derartige „logische Inkonsistenzen“ sich berufen zu können) abschließen: „Auch wenn jedem Philosophen und sonstigen Gebildeten diese erkenntnistheoretische Unterscheidung [Teil-Ganzes-Unerkennbarkeit] geläufig sein müsste, weil sie logisch und empirisch zwingend ist, verstoßen viele Philosophen gegen sie“. Wer selbst in einem ziemlich brüchig anmutenden, philosophischen Glashaus residiert sollte mit derart arroganten Bemerkungen sparsamer umgehen.

Andere Teile des Buches sind hingegen sehr lesbar (abzüglich des zweiten Kapitels, in dem die Autoren den Aufbau des Gehirns mit zahlreichen Fachtermini beschreiben: So etwas ist per se Unsinn. Der damit Vertraute hört nichts Neues, der Laie hingegen wird schlicht von den Begriffen erschlagen.), wobei ich das Kapitel über die Psychoanalyse sehr aufschlussreich fand: Immer noch scheint die Analyse von J. D. Frank (von 1961!) aktuell zu sein, wonach die Wirksamkeit der Psychoanalyse vor allem auf der therapeutischen Beziehung zwischen Arzt und Patienten beruht (neben der Akzeptanz der Kompetenz des Therapeuten, einem (pseudo-)wissenschaftlichen Behandlungsschema und der Bereitschaft des Patienten, den Anweisungen Folge zu leisten), während die ursprünglichen theoretischen Konzepte von Ödipus über Traumdeutung bis Triebstau zusammenphantasierter Unsinn sind (allerdings scheint es sehr gute Belege dafür zu geben, dass aufgrund des noch unausgereiften Gehirns von Kleinkindern früher Missbrauch oder Gewalt große, fast irreversible Auswirkungen hat). Ebenso einleuchtend scheint mir die Kritik an der kognitiven Verhaltenstherapie: Eine Verhaltensänderung wird im seltensten Fall durch reine „Einsicht“ erzielt, sondern (wie im übrigen schon Hume einleuchtend dargelegt hat) nur durch einen emotionalen Impetus. Rationalität bestimmt die Mittel, nicht aber das zu erreichende Ziel.

Trotz der philosophischen Abstrusitäten (und des weitgehend überflüssigen zweiten Kapitels, eine derartige Darstellung meine ich schon bei einem anderen Buch Roths kritisiert zu haben) und des manchmal etwas selbstgefälligen Untertones ist das Buch die Lektüre wert. Und es ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass Wissenschaftler (welcher Couleur auch immer) vorsichtig sein sollten, wenn sie sich auf fremdes Terrain begeben. Dies gelingt zumeist nur naturwissenschaftlich und philosophisch Ausgebildeten – wie bei vielen Mitgliedern des Wiener Kreises oder in der Gegenwart Leuten wie Gerhard Vollmer oder Bernulf Kanitscheider. Roth/Strüber würde dagegen eine philosophische Propädeutik nicht wirklich schaden.


*) Ein wenig erinnert mich die „Beweisführung“ Roths an jene von Schachspielern Ende der 80er: Computer würden nie gegen die besten menschlichen Spieler gewinnen (so ein mit mir befreundeter, ausgezeichneter Spieler), weil sie ja von Menschen erschaffen werden. Auch in dieser Argumentation spielt die Teil-Ganzes-Relation und die Rückbezüglichkeit geistiger Strukturen (mit ihrem vermeintlichen circulus vitiosus) eine Rolle.


Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta 2014.

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