Stephen Sondheim: Sweeney Todd

Kann ein Opernhaus auch Musical? Immerhin sind, trotz des ähnlichen Genres, die Anforderungen ein bisschen anders: Musicals werden normalerweise während einer Saison von mehr oder weniger der gleichen, nicht allzu grossen Truppe aufgeführt. Die Orchestrierung ist eine ganz andere. Meistens sind es auch nicht ausgebildete SängerInnen, die auf der Bühne stehen, sondern SchauspielerInnen, die auch singen können. Will sagen: die durchaus die Töne treffen, aber nicht über die klassische Gesangsausbildung verfügen, die es dem Menschen erst möglich macht, auch ohne Mikrofon und andere technische Verstärkung mit der Stimme ein grosses Haus zu füllen. Wirklich grosse, stimmliche Herausforderungen, wie sie eine Oper kennt, wird man im Musical so ganz sicher nicht finden.

Man darf deshalb sagen, dass es war durchaus gewagt war vom Zürcher Opernhaus, Stephen Sondheims Sweeney Todd ins Programm dieser Saison aufzunehmen.

Das Musical stammt aus dem Jahre 1980 und beruht auf einem Theaterstück von Christopher Bond aus den 1960ern, das seinerseits eine Schauermär aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Quelle hat. Darüber, wer diese Mär verfasst hat, streiten die Gelehrten. Sie ist anonym und in Fortsetzungen in einer jener Zeitschriften erschienen, die darauf spezialisiert waren, literarisches Fast Food in Form von Sensations- und Geistergeschichten unters weniger anspruchsvolle lesende Volk zu bringen. Einer der im Verdacht stehenden Autoren gehört auch zur Gruppe jener, die den Vampir trivialisierten und popularisierten. (Und auch wenn die Hauptfigur Sweeney Todd selber kein Menschenfleisch isst, so erinnert doch der Tropus der Anthropophagie, den schon das viktorianische Prosa-Vorbild des Musicals verwendete, an jene Monster, die sich von menschlichem Blut ernähren.) Es ist sogar wahrscheinlich, dass – wie damals bei solchen seriell hergestellten Romanen üblich – mehrere Autoren für die verschiedenen Fortsetzungen in Frage kommen. (Geistiger Schirmherr solcher Geschichten ist – es tut mir leid, es sagen zu müssen – natürlich Charles Dickens mit seinen viktorianisch-bizarren Geschichten. Von ihm beziehen sie die Rechtfertigung ernst zu nehmender Literatur, die den Erfolg der Fortsetzung-Schmonzetten erst möglich machte.)

Die Geschichte eines serienmordenden Barbiers aus dem 19. Jahrhundert kann im 21. Jahrhundert natürlich nicht mehr mit der Ernsthaftigkeit dargeboten werden, die die viktorianischen Autoren dem Thema zu geben trachteten. Zu absurd will uns so eine Story heute erscheinen; und so ist denn dieses Musical im Grunde genommen eine grosse Farce, eine Anhäufung schwarzen Humors. Dazwischen gestreut (um einen positiven Empfang durchs Publikum zu sichern?) eingängige Lieder, wie man sie von Musicals her halt so kennt. Alles in allem sicher keine schlechte Vorlage, auch für ein Opernhaus.

Für meinen Geschmack kam dann allerdings die Aufführung ein bisschen allzu behäbig daher, zu langsam, ich hätte mir mehr Tempo gewünscht, vor allem in den Szenen, in denen der Chor agierte, der ganz eindeutig nicht aus (s)einer opernhaften Betulichkeit herausfand. Bryn Terfel als Sweeney war stimmlich eine Klasse für sich. Angelika Kirchschlager als Mrs. Lovett beeindruckte weniger durch ihren Gesang (der war, was ich von einer Sängerin erwarte, die eine Hauptrolle in so einem Stück spielt, durchaus auch auf hohem Niveau), als viel mehr dadurch, dass sie als einzige in der Lage war, den Vorteil ganz auszunutzen, den ein Mikrofon dem Sänger bietet – nämlich, sozusagen im selben Satz hochdramatische Koloratur in prosaische Alltags-Phrasierung übergehen zu lassen, z.B. im selben Satz ihre Liebe zu Todd zuerst musikalisch-dramatisch und dann nur in Sprechstimme banal-ironisierend zu gestehen. Allzu bemüht, habe ich gesagt, und das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass offenbar im Hinterkopf des Regisseurs Brechts und Weills klassenkämpferische Dreigroschenoper herumschwirrte: Sweeney Todd als (Vor-)Kämpfer derer da unten gegen die da oben. Das Bühnenbild, das immer wieder ein ständisches Oben und Unten signalisierte, trug viel zu diesem Eindruck bei. So kam es, dass einem der in seinem aussichtslosen Kampf gegen die von Judge Turpin vertretene Oberschicht unterliegende Todd zum Schluss fast gar leid tat. (Was natürlich das Klassenkämpferische wieder annulliert: Mitleid ist keine Grundlage für einen Klassenkampf. Je nun, von einem Opernhaus erwarten wir auch nicht ernsthaft, das es zum Klassenkampf aufruft. Und schon gar nicht im 21. Jahrhundert, wo selbst die Linken und die Arbeiter diesem Begriff misstrauen.) Das Dämonische, das der Chor bei Todd immer wieder herauf beschwor, war jedenfalls gestern nicht zu finden. Sweeney Todd in Zürich ist einfach nur ein armer Kerl, ein grosser Junge, dem man weh getan hat und der deshalb nun wütend und in Tränen um sich schlägt. Nicht nur das Klassenkämpferische, auch das Absurd-Komische seiner Lage geht dabei verloren.

Bemerkung am Rande: In der Pause wurde anstatt des sonst üblichen Blätterteig-Schinken-Gebäcks eine heisse Fleischpastete angeboten. Solche Pausensnacks sind nie ein wirklicher kulinarischer Höhepunkt; die Pasteten waren zwar siedend heiss; die darin enthaltene Hackfleisch-Mischung aber auch nicht besser oder anders gewürzt, als ich es selber hingekriegt hätte. Ausserdem war das Ding als Finger Food ungeeignet; es bröselte und hätte mit Messer und Gabel gegessen werden müssen…

Alles in allem: Wegen der beiden Hauptdarsteller eine durchaus sehenswerte Inszenierung. Das offenbar gut gelaunte Publikum spendete häufigen Szenenapplaus – jedes Mal, wenn wieder eine eingängige Melodie gesungen worden war.


Sweeney Todd [The Demon Barber of Fleet Street, A Musical Thriller]
Musik und Liedtexte von Stephen Sondheim (*1930)
Buch von Hugh Wheeler, nach dem Theaterstück von Christopher Bond
Musikalische Leitung: David Charles Abell
Inszenierung: Andreas Homoki
Gesamtausstattung: Michael Levine
Kostüme: Annemarie Woods
Lichtgestaltung: Franck Evin
Choreinstudierung: Janko Kastelic
Choreografie: Arturo Gama
Dramaturgie: Beate Breidenbach

Sweeney Todd: Bryn Terfel
Mrs. Lovett: Angelika Kirchschlager
Anthony Hope: Elliot Madore
Beggar Woman: Liliana Nikiteanu
Judge Turpin: Brindley Sherratt
The Beadle: Iain Milne
Johanna: Mélissa Petit
Tobias Ragg: Spencer Lang
Pirelli: Barry Banks
Jonas Fogg: Cheyne Davidson
Zwei Damen: Justyna Bluj, Asahi Wada
Fünf Herren: Richard Walshe, Dean Murphy, Jamez McCorkle, Thobela Ntshanyana, Leonardo Sanchez

Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Orgel: Enrico Maria Cacciari

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert