Weshalb war es ausgerechnet Vergil, der den Ich-Erzähler Dante in dessen Divina Commedia durchs Inferno und auch noch große Teile des Purgatorio führt? Warum ein „Heide“ und nicht ein christlicher Heiliger oder allenfalls ein alttestamentarischer Patriarch? Die Antwort ist, so seltsam das auf den ersten Blick aussieht, in diesen Hirtengedichten hier zu finden, allerdings über einen kleinen Umweg.
Auf Latein ursprünglich als Bucolica bekannt (was wohl auch der Titel zu Vergils Zeit war), später aber als Eclogae überliefert, handelt es sich bei den Hirtengedichten um das früheste auf uns gekommene Werk Vergils (wenn man einmal von ein paar noch früheren vereinzelt überlieferten Gedichten absieht). Es handelt sich um eine Sammlung von zehn Gedichten, formal alle voneinander verschieden, die mehr oder weniger an den Idyllen des Theokrit von Syrakus orientiert sind. Sie sind über einen Zeitraum von mehreren Jahren entstanden und – offen gesagt – nicht alle von derselben Qualität.
Um genau zu sein – und das stellt auch die große Neuerung dar, die Vergil hier einbrachte –, sind sie eher weniger an Theokrit orientiert. Abgesehen vom allgemeinen Setting der meisten Gedichte Vergils (in einem ländlichen Raum, mit Schafhirten als Sängern) finden wir wenig, das an Theokrit erinnert. Das Groteske und Humoristische des hellenistischen Dichters ist bei Vergil stark zurückgenommen, eigentlich sogar ganz abwesend. Dafür flicht er zeitgenössische Politik ein. Prominent finden wir die Landverteilung in Cremona und Mantua an 200‘000 Veteranen der Triumvirn infolge der Bürgerkriegswirren, die zunächst auch Vergil sein Land verlieren ließ, da er auf der falschen Seite gestanden hatte. Durch Beziehungen mit Vertretern der neuen Machthaber erlangte er sein Gut wieder zurück und wird nun nicht müde, seine Hirten seine Freude und Dankbarkeit darüber ausdrücken zu lassen.
Natürlich enthält die Sammlung auch (homosexuelle!) Liebesgedichte oder dichterische Wettgesänge, hierin folgt Vergil seinem Vorbild.
Aber das alles wäre kein Grund gewesen für Dante, sich ausgerechnet Vergil als Führer auszusuchen. Nun war aber Vergil war zur Zeit Dantes ein berühmter Mann. Dem Volk galt er als Magier, die Theologen aber (und damit auch gebildete Schriftsteller wie Dante) betrachteten ihn als „anima naturaliter christiania“, als von Natur aus christliche Seele. Dies verdankt er dem vierten Gesang der Sammlung, dem Monolog Novi saeculi interpretatio (Verkündung eines neuen Weltalters). Vergil stützt sich darin auf eine Weissagung aus den Sibyllinischen Büchern und prophezeit, dass nunmehr ein Weltalter zu Ende geht und ein neues, friedliches und schönes beginnen soll. Als Zeichen dieses Beginns wird eine Jungfrau zurückkehren und mit ihr …
Und hier liegt die Krux. Vergil formuliert folgendermassen:
iam nova progenies caelo demittitur alto.
Meine Übersetzung (von Heinrich Neumann) bringt dafür:
Schon wird ein neues Geschlecht vom Himmel gesendet
Es gibt nun die Theorie, dass frühe Vertreter der Kirche, die nur Griechisch sprachen zu jener Zeit, auf Grund einer falschen Übersetzung ins Griechische hier statt eines „neuen Geschlechts“ einen „Knaben“ oder „Jüngling“ serviert bekamen, woraus sich dann die Überzeugung formte, dass Vergil die Geburt Christi gemeint hätte.
Der Zeitpunkt seines Neubeginns wird von Vergil ziemlich genau festgelegt, was einerseits dazu führte, dass viele Interpreten (es waren damals ausschließlich Männer) versuchten, den ersten Spross des neuen Geschlechts in einer historischen Persönlichkeit zu fixieren. Heinrich Neumann in einer Vorbemerkung dazu erklärt dieses Vorhaben als gescheitert; es gibt niemand von Wichtigkeit, der genau zu jenem Zeitpunkt zur Welt gekommen wäre. Andere, mit der Geburtszeit salopper umgehende Exegeten nach den Theologen hielten dafür, dass Augustus gemeint sei – was, in Anbetracht des Umstands, dass Vergil später zu einem der großen Dichter der augusteischen Zeit und Verherrlicher des Augustus wurde, durchaus plausibel klingt. Schließlich ist ja auch der Bezug zu Christus zeitlich nicht herzustellen.
Nun, das Goldene Zeitalter des Vergil ist nicht gekommen – so wenig, wie noch jedes Goldene Zeitalter wirklich gekommen ist. Aber aus ideengeschichtlicher Sicht (und mit Blick auf Dante) sind die Hirtengedichte, ist die Vierte Ekloge, durchaus noch lesenswert.
Ich möchte mich sehr für diese Beiträge bedanken! Leider bin ich erst jetzt auf diese Seite gestoßen – wäre es doch nur früher dazu gekommen. Leider findet man heutzutage so wenig Intellektuelle, die sich noch wahrlich für geistreiche Literatur interessieren; an der Universität schon gar nicht.