Emilio Lussu: Ein Jahr auf der Hochebene

Emilio Lussu berichtet von einem Jahr während des Ersten Weltkrieges, ein Jahr, das er auf einer Hochebene gegenüber den österreichischen Stellungen zugebracht hat. Nach diesem Jahr ist er der einzige noch lebende Offizier seiner Kompanie und wird schließlich an einen anderen Frontabschnitt versetzt.

Lussu erhebt keinen literarischen Anspruch, er beschreibt schlicht den alltäglichen Kriegswahnsinn. Was sich auf den ersten Seiten noch wie ein verrücktes Kriegsspiel liest, gewinnt mit zunehmender Dauer den Charakter entsetzlichsten Grauens, das durch völlig unfähige Vorgesetzte und dem geforderten absoluten Gehorsam zu einer Schlächterei ausartet. Immer wieder werden – auch militärisch völlig sinnlose – Aktionen gestartet (um der Aktion willen bzw. um den Chauvinismus und die Kriegsgeilheit der Generäle zu befriedigen), nie gibt es auch nur die geringsten Gebietsgewinne, die kleinsten militärischen Erfolge – und die allermeisten Toten sind durch “friendly fire” zu beklagen (so dauert es einmal über eine Stunde, bis der Beschuss der eigenen Schützengräben durch die Artillerie eingestellt wird). Dazwischen aber auch Pausen, in denen bloß aus Gewohnheit geschossen wird. Und nach mehr als einem dreiviertel Jahr erblickt Lussu bei einem Spähgang erstmals einen Österreicher: Der sich – zu seinem Erstaunen – nur durch die Uniform von den eigenen Kameraden unterscheidet, der im Schützengraben ebenfalls Kaffee trinkt, auf das Mittagessen wartet. Er ist sich dessen bewusst, dass er diesen Offizier erschießen muss, er ist auf ein solches Tun verpflichtet, er legt an und vermag es doch nicht über sich zu bringen (und auch der ihn begleitende Korporal weigert sich). Aber schon nach wenigen Tagen geht der Wahnsinn von Angriff und Rückzug weiter, zum Nachdenken bleibt keine Zeit.

Lussu behauptet zwar, keinen Roman, sondern nur persönliche Erinnerungen festzuhalten, dennoch gelingt ihm auch eine literarisch ansprechende Darstellung. Es ist ein beliebiges Jahr (vom Krieg zuvor erfährt man nichts, auch nicht von den Ereignissen nach seiner Verlegung) und es wird so zu einem paradigmatischen Jahr, zu einem “normalen” Kriegsjahr. Durch diesen Verzicht auf eine geschlossene Handlung wird die Authentizität gewahrt, Vergleiche mit Remarque sind durchaus angebracht. Nur dass es diesmal der Süden ist, in dem sich nichts “Neues” ereignet.

Kriege zwischen Italien und Österreich haben lange historische Tradition und es stellte sich mir beim Lesen die Frage, ob dies mit dem letzten, dem Zweiten Weltkrieg, ein Ende gefunden hat. Und auch wenn ein solcher Krieg derzeit unvorstellbar scheint: Vorstellbarkeit ist kein Kriterium für zukünftiges Geschehen. Mich an meine eigene, bald 35 Jahre zurückliegende Bundesheerzeit erinnernd sehe ich noch die Begeisterung für kriegerische Handlungen vor mir, den perversen Abenteuergeist beim Graben von Schützenlöchern, das Einlernen von rettenden Maßnahmen, wenn in einer Entfernung von 1000 Metern eine A-Bombe detoniert. Dass ich diesen Schwachsinn als solchen bezeichnete hat mir zwei Tage Haft beschert: Noch schlimmer aber war die durchgehende Entrüstung meiner “Kollegen” über diese meine defätistische(!) Haltung, über meinen Mangel an Respekt vor dem militärischen Fachpersonal. Nie zuvor hatte ich die verbohrte, abgrundtiefe Dummheit in dieser Intensität erlebt (wie überhaupt während dieser Ausbildungszeit) – und seither ist mir bewusst, dass die oben zitierte Skepsis bezüglich Kriegshandlungen sehr viel weniger berechtigt ist als man sich vorzustellen bereit ist.

5 Replies to “Emilio Lussu: Ein Jahr auf der Hochebene”

  1. Wenn alle Österreicher so defätistisch dächten, wer würde dann ihr Land verteidigen, wenn etwa wieder, wie 1683, die Türken vor Wien stünden? Darauf, dass dann der Präsident von Polen als Retter mit einem Heer anrücken würde, sollte man sich nicht verlassen. Immerhin gibt es historische Beispiele dafür, dass auch eher schöngeistig kontemplative Gemüter, wenn’s sein muss, in Waffen ihren Mann stehen können. So der den Christen abtrünnige spätrömische Kaiser, zu dem der Herausgeber des „Portable Gibbon“ („The Decline and Fall of the Roman Empire“) anmerkt:
    „Julian, the other nephew, who is by all odds Gibbon’s favourite character among the later Roman emperors, was exiled to Athens after the demise of his brother Gallus, and there studied well among the Greek teachers and philosophers. Through the partiality of the empress Eusebia he was ultimately recalled from his studious exile and raised to the rank of Caesar, to be stationed in the barbarian-distracted province of Gaul. Despite a total lack of military training and experience (after the clumsy performance of some routine exercise he is reported to have exclaimed, “O Plato, Plato, what a task for a philosopher!”), he surmounted immense difficulties to defeat first the Alemanni and then the Franks; and while Julius Caesar could boast that he had twice passed the Rhine, Julian achieved three such expeditions before he was fated to assume the purple.“

    1. Ach, sag bloß, der türkische Sultan steht wieder vor Wien? Ging ja schnell nach der Ausweisung der Imame letzte Woche. – Dann werde ich wohl mein Sturmgewehr laden müssen … So nebenbei: Ein paar Defätisten auf italienischer und österreichischer Seite hätten dem Ersten Weltkrieg ganz gut getan.

      1. Noch hat der Sultan keinen Marschbefehl gegeben, aber… In meinem ersten Geschichtsbuch, als ich so etwa achtjährig war, gab es nämlich eine Abbildung jener Belagerung. Besonders beeindruckt hat mich die größte Figur im Vordergrund, ein Türke mit Turban und Krummsäbel. Als dann die Rede davon war, dass Türken nach Berlin zuwanderten, vermutete ich, auch die würden in so einem Aufzug herumlaufen.

  2. In jedem Jahr seit 2002 kommen wir während unseres Aufenthalts in Südtirol mit den Folgen der italienisch-österreichischen Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg in Berührung. Die italienischen Kriegerdenkmäler werden von den örtlichen Vertretern der Staatsmacht in Ehren gehalten, während die deutschsprachigen Südtiroler ihre eigenen Helden, wie Andreas Hofer, ehren.
    Was den Militärdienst in der DDR betrifft, könnte ich auch so einige Erlebnisse beisteuern. Wie der Einjährig-Freiwillige in Jaroslav Haseks “Schwejk” war ich 1972 auch “Bataillons-Geschichtsschreiber”.
    Was die Vorbereitung auf einen Atomwaffeneinsatz betrifft:
    Ausbilder, mit einen Zettel und einen Bleistift hinwerfend: “Wie hoch muss der Erdhügel sein, wenn in einem Kilometer Entfernung eine Atombombe explodiert ist?”
    Ich: “Keine Ahnung, ich glaube kaum, dass ich den erreichen würde.”
    Ausbilder: “Ein Kamerad von Ihnen ist auf die Lösung gekommen und hat gezeigt, wie man überleben kann.”
    Ich: “???”
    Ausbilder: “Kanalisation!”
    Ich: “Da muss aber ein Deckel in der Nähe sein.”
    Ausbilder: Sie sitzen also jetzt in der Kanalisation. Wie lange würden Sie denn da unten bleiben?”
    Ich: “Keine Ahnung. Ich kann mir aber vorstellen, dass ich irgendwann wieder nach oben kommen würde, um zu sehen, wie der Krieg ausgegangen ist.”
    Ausbilder: “Hinaus mit Ihnen!”

    Dafür hatte ich aber im Spätherbst 1989 das Erlebnis, dass die nach hunderttausenden zählenden Angehörigen der “Kampfgruppen der Arbeiterklasse” der DDR, die mit Maschinengewehren und Geschützen ausgerüstet waren, innerhalb weniger Tage erleichtert ihre Knarre für immer aus der Hand gaben, was kurze Zeit zuvor niemand für möglich gehalten hatte. Das von Waffen starrende Staatsgebilde implodierte im Verlauf weniger Wochen. Das könnte einem einige Hoffnung geben –

    wenn sich nicht immer neue Beispiele militaristischen Wahnsinns zeigen würden und man bei der Durchfahrt am Brenner mit dem Zug abschätzt, wie viele Männer nötig sein würden, um gegebenenfalls den Pass zu verteidigen, was einem ebenfalls vor Jahren noch nicht in den Sinn gekommen wäre.

    1. Die Blödheit ist offenkundig ideologieabhängig: Einen ganz ähnlichen Dialog habe ich 1981 hier in Österreich geführt. (Uns hat man erklärt, dass das mit der Atombombe so schlimm nicht wäre und der heimische, grüne Regenschutz ab einer Entfernung von etwa 1000 Metern einen ganz hervorragenden Schutz bieten würde. Und laut bis 100 zählen – wurde uns eingeschärft, denn das stärke die Moral der Truppe, sie wisse dann, dass es noch Überlebende gäbe (mit und ohne Regenschutz). Als ich Zweifel an den Zählfähigkeiten der Unteroffiziere äußerte und die Zahl 10 als die äußerste Grenze bezeichnete, zu der manche vordringen würden, wurde ich – nicht zum ersten Mal – in Ordnungshaft genommen.)

      Im übrigen wurden wir auf die Gefahr aus dem Osten eingeschworen (der Russe stand ja ständig vor der Tür wie die Zeugen Jehovas). Das Bedenkliche an der Sache waren aber die anderen Wehrdiener: Denn die allermeisten hatten eine offenkundig Freude am Krieg spielen, an der Knallerei (was ich ökonomisch zu nutzen verstand: Ich verkaufte meine Platzpatronen vor einer Übung an den Meistbietenden und ersparte mir damit die Reinigung der “Braut” post festum).

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