Denn war Kunst noch bis vor einigen Jahren aufrüttelnd, anregend, schön, mitreißend, in vielen Fällen zu Kontroversen einladend, so ist sie nun hauptsächlich und vor allem moralisch. Wobei nicht nur das Kunstwerk als solches den hehren Ansprüchen selbsternannter Sprach- und Moralapostel genügen muss, sondern auch der Künstler selbst ein untadeliges Leben vorweisen soll, um nicht dem Verdikt einer sich selbst erregenden Wächtergemeinde (wobei das Internet das ideale Medium für eine derartige Aufregung darstellt) zum Opfer zu fallen. Rauterberg erläutert solche Fälle anhand konkreter Beispiele, die in den letzten Jahren einige Berühmtheit erlangt haben. Diese Methode, anhand bestimmter Ereignisse diesem Denken nachzuspüren, macht das Buch so lesenswert (denn ich hatte schon eine verschroben-abgehobene Diskussion über die Ästhetik von Kunstwerken und deren Bewertung befürchtet).
Der Fall Dana Schutz ist paradigmatisch für die Vereinnahmung historisch-ethnisch-gesellschaftlicher Werte durch „Betroffene“ (wer immer dann mit Fug und Recht ein Betroffener zu sein behauptet). Schutz malte ein Bild, das an die Befreiungsgeschichte schwarzer Amerikaner erinnern sollte, indem sie den Leichnam von Emmett Till, einem 14jährigen Jungen, der von zwei weißen Männern in Mississippi umgebracht worden war (und dessen Foto im offenen Sarg einen großen Bekanntheitsgrad hat), als Sujet wählte. Bei der Ausstellungseröffnung stellte sich der Künstler Parker Bright vor das Bild, angetan mit einem T-Shirt mit der Aufschrift: „Black Death Spectacle“. Das hinwiederum rief die Künstlerin Hannah Black auf den Plan, die vom Museum verlangte, dass das Bild abgehängt, ja zerstört werden solle. „Nicht-schwarze Künstler müssten aufhören, die Schmerzen Schwarzer als Rohmaterial zu behandeln“. Eine „Ideologie der Siegerkunst“ sei das, weshalb sie allen nicht-schwarzen Künstlern untersagte, sich bestimmter Themen anzunehmen. – Man könnte derartigen Unsinn einfach abtun als Auswüchse einer Kunstszene (denn alle Beteiligten schimpfen sich Künstler), die des logisch-rationalen Denkens nur eingeschränkt fähig sind. Tatsächlich aber ist gerade diese Kontroverse paradigmatisch für ein überzogenes, lächerliches und vermeintlich moralisches Anspruchsdenken, das in seiner Konsequenz das eigentliche Anliegen ins Gegenteil verkehrt. Extrapoliert man eine solche Forderung, so könnten einzig Juden über den Holocaust schreiben, Inuit über den Rassismus in Grönland und Homosexuelle über Homosexuelle. Damit würde die gesamte Weltliteratur der Zerstörungswut moralischer Selbstgefälligkeit anheim fallen, da man einzig Autobiographisches noch ohne Einschränkung veröffentlichen könnte (und auch das nur unter der Bedingung, dass man sich auf die bloße Deskription anderer, in einem solchen Werke vorkommender Personen beschränkte).
Der Fall Balthus beleuchtet eine ähnliche Facette: Das Bild einer tanzenden 13jährigen, deren Unterhose durch die Drehbewegung sichtbar wird, löste einen enormen Shitstorm aus. Die Kunstkritikerin Mia Merrill wünschte sich einen Warnhinweis dahingehend, dass dieses Gemälde als anstößig bzw. verstörend empfunden werden könnte. Offensichtlich ist das von ihr vorgestellte Publikum sowohl schutz- als auch belehrungsbedürftig und muss bei der Betrachtung von einer moralischen Instanz an die Hand genommen werden. (Ähnliches wurde für den Amor von Caravaggio gefordert, der eindeutig der Erregung des Betrachters diene.) Nun aber besteht der Sinn der Kunst (u. a.) darin, dass man bestimmte Sittsamkeitsideale gerade deshalb ignoriert, um diese sichtbar zu machen und für Diskussionen zu öffnen. Wird eine solche Betrachtungsweise an das Bild von Balthus angelegt, so wäre es einzig der Blick des Betrachters, der das Kind sexualisiert und nicht der Künstler selbst. Rauterberg stellt einen „ästhetischen Klimawandel“ fest, der dazu führt, dass Facebook die Venus von Willendorf ebenso löscht wie das nackte Mädchen von Mi Lai oder das Revolutionsbild von Eugene Delacroix (die Freiheit mit nacktem Busen ist ein wenig zu viel an Freiheit für ein Medium, das andererseits sich außerstande sieht, Hakenkreuze durch Algorithmen zu erkennen und zu löschen). Man wird vor französischen Impressionisten geschützt, das Richtige wird vom Falschen strikt getrennt und Facebook entscheidet über die Kriterien: Hier ist ein Freiheitsverlust zu konstatieren, der unangenehm an die Gedankenpolizei Orwells erinnert.
Auf eine andere Ebene führt der Fall Chuck Close: Eine Retrospektive seiner Bilder wurde „auf unbestimmte Zeit“ verschoben, weil gegen den Maler sexistische Vorwürfe laut wurden. Hier steht offenbar das Kunstwerk für den Kunstschaffenden (ähnlich wie bei Peter Handke, wobei ich ihm auch für seine Bücher nicht den Nobelpreis verliehen hätte) und Rauterberg zitiert den Kunstkritiker Horst Bredekamp, der davon sprach, dass „er keine Epoche außer den Zeiten des Totalitarismus kenne, in denen vorausgesetzt wurde, dass einem bedeutenden Werk ein moralisch makelloser Künstler entsprechen müsse“. Denn auch hier muss jemanden, der nur ein wenig nachdenkt, alsbald übel werden angesichts der nicht mehr lesbaren, betrachtbaren Kunstwerke der Geschichte, sofern man „moralische Makellosigkeit“ zur Voraussetzung macht. (So ganz nebenbei stellt sich immer auch die Frage, wer denn nun kompetent sei für diese Fragen der Moral, wem das letzte Entscheidungsrecht zugestanden werden müsse – gar dem Staat?) Bei Close ging die Posse noch weiter: In vorauseilendem Gehorsam entfernte etwa die Universität Seattle ein Werk des Künstlers, weil es sich um mögliche „Reaktionen der Studenten“ besorgt zeigte. Das hinwiederum weitergedacht ist nichts anderes als eine freiwillige Selbstzensur, die da nicht nur Museumskuratoren sondern auch die Künstler selbst betrifft (welche beim Schreiben oder Malen oder Bildhauern brav alles das unterlassen, was in irgendeiner Weise Anstoß erregen könnte: Von solcher Kunst würde ich die Finger lassen). Vergleichbares geschah auch in Deutschland mit Eugen Gomringer und dessen Gedicht „ciudad (avenidas)“: Alleen / Alleen und Blumen // Blumen / Blumen und Frauen // Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“. Ein Gedicht, das (sollte das jemanden nicht sofort aufgefallen sein) eine „klassische patriarchale Kunsttradition reproduziert“, Frauen zu Musen degradiert und unangenehm an sexuelle Belästigung von Frauen erinnere, der diese alltäglich ausgesetzt sind. Tatsächlich wurde dieses Gedicht (das sich an den Wänder einer Hochschule befand) nach eingehender Diskussion entfernt (wegen „potenziell sexistischen Inhalts“). Die Freiheit der Kunst „verbrenne so lebendig zu Asche“, denn sie „besteht und vergeht zugleich, sie treibt ihre eigene Auflösung hervor, sie ist ein Akteur der Liberalisierung und ihr Opfer“ schreibt dazu Rauterberg. In der Begründung zur Entfernung des Gedichts taucht zweimal das Wort „Angst“ auf, wobei es nicht die konkreten Gedichtzeilen waren, die das Beängstigende auslösten. „Es waren ihre Assoziationen, ihre eigenen Vorstellungen, die ihnen Angst machten. Nicht das Gesagte, das Nicht-Gesagte wurde zum Auslöser des Gefühls. Und dieser relative Eindruck wurde dabei keineswegs selbst relativiert, sondern in der Debatte wie eine verallgemeinerbare Tatsache vorgebracht.“ (meine Hervorhebung).
Genau hier scheint das Hauptproblem zu liegen, das jegliche Art von Freiheit desavouiert (wie das in ähnlicher Form im Totalitarismus geschah): Es glaubt sich hier jemand im Besitz einer Wahrheit, die noch nicht einmal auf die zur Diskussion stehende Frage angewandt werden kann (denn weder Gefühle noch Moral sind Gegenstand wahrheitstheoretischer Erläuterungen). Während dies aber früher (und auch heute) totalitäre Staatschefs für sich in Anspruch nahmen (Chrustschow und Hitler waren sich in ihren ästhetischen Meinungen über moderne Kunst einig), machen heute „Betroffene“ aller Art ihr Empfinden zur Richtschnur für das, was man in der Kunst darf oder vielmehr nicht darf. Darüber sind dann auch keine Diskussionen mehr möglich, gegen ein Gefühl lässt sich nicht argumentieren (außer wenn es zur richtungsweisenden Wahrheit erhoben wird, allerdings nennen solche Menschen zumeist einen relativistischen Wahrheitsbegriff ihr eigen, wodurch es mit der Argumentation auch schon wieder sein Ende hat).
Im Grunde frisst die Kunstrevolution ihre eigenen Kinder. Jahrzehntelang haben linke Künstler den Antiinstitutionalismus, mit „Nieder mit dem Schweine-System“ eine anarchische Kunstwelt gefordert, seit kurzem aber beginnen sich auch die Rechten als anti-institutionell zu empfinden (was dann heutige Linke dazu treibt, den Staat zu verteidigen). Denn „die illiberale Demokratie kann als attraktiv erscheinen: Weil sie von manchen als Befreiung von der Freiheit erfahren wird. Unfreiheit entlastet, nicht länger ist das Individuum gezwungen, sich immerzu für seine Individualität zu entscheiden. Diese Zwanglosigkeit wiederum vermögen die Rechtsrebellen als Befreiung der Freiheit auszudeuten.“ Und während nun Rechte das System, die „da oben“, die liberalen Eliten etc. in einer Sprache kritisieren, die stark an die marxistische Systemkritik von anno dazumal erinnert, laufen linksliberale Moralapostel Sturm gegen jene Freiheit der Kunst, die in den 70ern des letzten Jahrhunderts – zu Recht – als eine große Errungenschaft gefeiert wurden. So geschnürt in ein Prokrustesbett von linken Sittenwächtern und rechten Freiheitsverächtern ist mehr als nur diese Freiheit der Kunst in Gefahr: Sondern die Freiheit des Einzelnen – und die Vernunft als ganzes. – Rauterbergs Buch ist eine wunderbar beredte Abrechung mit rechter Dummheit und linker Selbstgerechtigkeit.
Hanno Rauterberg: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Berlin: Suhrkamp 2018.