Das Buch ist glänzend geschrieben und besticht durch eindrucksvolle Selbstbeobachtungen. Richard schildert seinen Blick auf den Vater nicht aus einer (späten) Metaperspektive, sondern zeigt die Bewunderung des Kindes für den aus unerfindlichen in ein Gefängnis gesperrten Vater, sein Unverständnis für die Situation, die sich durch die Scheidung seiner Eltern noch verschärft. Früh schon wird Richard dadurch selbstverantwortlich, kommt in ein Internat und bezieht später ein kleines Zimmer, da die Kosten von der sich in finanzielle Abenteuer stürzenden Mutter nicht mehr bestritten werden können. Langsam beginnt sich der Junge für die eigene, deutsche Geschichte zu interessieren, entdeckt etwa das Tagebuch der Anne Frank und weist seinen Vater naiv brieflich auf diese ihn erschütternde Lektüre hin (alle diese Hinweise werden ignoriert). In der Schule wird das Dritte Reich ausgespart (das habe ich später selbst noch erlebt, nie sind wir im Unterricht über den Ersten Weltkrieg hinausgekommen, das Thema Nationalsozialismus wurde während meiner Schulzeit niemals auch nur erwähnt), seine Herbergsfamilie sympathisiert mehr-weniger offen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und vertritt die Meinung, dass Vater Schirach für die gesamten Deutschen im Gefängnis sitze (wobei diesen Deutschen offenbar Unrecht getan wurde und wird).
Liebe und Verehrung für den Vater (der sich entgegen fast aller anderen Angeklagten deutlich zu seiner Schuld geäußert hat) überdauern die Gefängniszeit, erst danach beginnen die Gräben aufzubrechen. Richard muss feststellen, dass der glorifizierte Vater all jene Fragen zu beantworten nicht in der Lage ist, die dem Sohn seit Jahren auf der Zunge brennen, er sitzt hier keiner abgeklärten Vaterfigur gegenüber, sondern einem sich immer stärker zurückziehenden Mann, der ganz offensichtlich aus der Zeit gefallen ist. Sein ganzes Leben, seine Erinnerungen stammen aus der Zwischenkriegszeit, für die Zeit unter Hitler (auch für jene, als die Verbrechen schon offenkundig waren) zieht er sich auf seinen geleisteten Eid zurück, keinesfalls aber erhält der Sohn eine für ihn nachvollziehbare, verständliche Antwort darauf, wie man sich zum Komplizen eines verbrecherischen Regimes machen konnte. Der Vater bleibt in den entscheidenden Punkten fremd, Richard ist weiter auf Vermutungen, Konjekturen angewiesen bei seiner Beschäftigung mit den Dokumenten des Dritten Reiches, während der ehemalige Reichsjugendführer sich einer solchen Auseinandersetzung verweigert (die Söhne schenken dem Vater ein 25bändiges Sammelwerk mit den Quellen zum Dritten Reich, in das dieser offenbar zeit seines Lebens keinen Blick wirft).
Diese sich langsam vollziehende Götterdämmerung ist großartig beschrieben, es ist eine schonungslose, doch gerechte Abrechnung mit dem Vater ohne alle Animositäten, sondern überaus feinfühlig. Am Ende bleibt nur beiderseitiges Unverständnis, der Einklang, der über 20 Jahre durch Briefe hergestellt werden konnte, verliert sich völlig. Daneben ist das Buch auch eine konzise Schilderung von Deutschland nach dem Krieg zwischen Verdrängung, Ignoranz und großer Armut. Eine beispielhafte Beschreibung der Nachkriegsgeschichte von jemandem, der mit seinem Versuch, Aufschluss über die Gründe der Katastrophe aus berufenem Munde zu hören, auf ganzer Linie scheitert.
Richard von Schirach: Der Schatten meines Vaters. München, Wien: Hanser 2005.