Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen

Mit einem anderen Buch der Autorin habe ich mir recht schwer getan, bei diesem war es nicht viel anders. Unterschiedlich aber ist die Form, dies ist kein Fachbuch, sondern eher eine Essaysammlung (die Autorin verfasst neun Briefe an den fiktiven Leser, in denen sie eine Lanze für das Lesen, das analoge Lesen bricht).

Dieses Plädoyer, das die Autorin mit zahlreichen Beispiele aus ihrer eigenen Arbeit mit Kindern als auch durch Erkenntnisse aus der Neurobiologie untermauert, kann ich in fast allem unterschreiben und bestätigen. Das hat nun nichts damit zu tun, dass ich ganz unzweifelhaft bibliophile Neigungen habe und in meinem Haus die meisten Wände von Bücherregalen bedeckt sind, sondern mit der eigenen Leseerfahrung. Wolf stellt vor allem das digitale und das analoge Lesen gegenüber – und genau das, was sie bei den von ihr getesteten Kindern festgestellt hat, kann ich als erwachsene Versuchsperson auch an mir feststellen. Lesen am Bildschirm (egal wie lesefreundlich dieser sein mag) ist auf längere Zeit in konzentrierter Weise nicht möglich (wobei ich vielleicht noch stärker als andere dazu neige, mich von Dingen ablenken zu lassen). Besser, aber immer noch schwierig das Lesen auf einem E-Reader; neben den Schwierigkeiten mit dem Vor- und Zurückblättern bzw. eine Stelle im Buch rasch zu finden, fehlt mir auch die Möglichkeit, schnell mit einem Bleistift eine Stelle anzustreichen (nein, nicht mit Leuchtstift oder Kugelschreiber, das gehört neben dem bewussten Fabrizieren von Eselsohren – statt eines Lesezeichens – zu den Todsünden jeden Lesers), eine kleine Notiz zu machen (die Tools, die die Erzeuger von E-Readern anbieten, konnten mich bislang nicht ansatzweise davon überzeugen, meinen Stenobleistift zu entsorgen – aber wer weiß, was die Zukunft bringt). Dazu kommt offenbar ein Erinnerungsvermögen, das mit den haptischen Erfahrungen verknüpft ist – der langen Rede kurzer Sinn: Der Inhalt eines analogen Buches bleibt sehr viel eher in meinem Gedächtnis haften als bei den digitalen Ensprechungen.

Kinder und Jugendliche erfahren heute eine gänzlich andere Lesesozialisation als früher: Ohnehin aufgrund ihres Alters leichter dazu neigend, sich von Umweltreizen ablenken zu lassen, kennen sie das Versinken in und mit einem Buch kaum noch, man liest eben digital und mangelndes Wissen kann mittels Suchmaschine sofort nachgeschlagen werden. Allerdings bleibt wenig von dem so erworbenen Wissen haften, weil es eben einen Unterschied macht, in einem Fremdwörterlexikon oder Atlas etwas nachzuschlagen als den in Frage stehenden Begriff im Netz zu suchen. Dabei wurde (von meinem eigenen Nachwuchs) die Sinnhaftigkeit des Wissens an sich angezweifelt, da man ja jede Frage ohnehin sofort via Google sich beantworten lassen könne und es daher gar nicht weiter schlimm sei, Dinge nicht zu wissen. Pustekuchen (ja, meine Lesesozialisation war in nicht unerheblichen Maße mit den „Lustigen Taschenbüchern“ verknüpft, die nicht annähernd so verderblich waren, wie meine Erzieher mir damals weis machten wollten), denn ohne ein passables Grundwissen (egal was betreffend) vermag ich die eintreffende Informationen nicht in die eigene Wissenslandkarte einzutragen, es fehlen Bezugspunkte, ein und dasselbe wird immer wieder nachgefragt und eine kritische Prüfung dessen, was da Google aufgrund schwer durchschaubarer Algorithmen oder aus werbetechnischen Gründen präsentiert, ist ohne ein solches Fundament unmöglich. (Vergleichbar vielleicht mit der Einführung des Taschenrechners, welche so manchen Schüler das Einmaleins vergessen lehrte – mit den entsprechenden Folgen.)

Dem Element einer (selbst-)kritischen Grundhaltung vermag die Autorin viel abzugewinnen, obwohl – aber man lese selbst den nun zitierten Absatz: „Kritisches Denken aber fällt nicht vom Himmel. Vor Jahren nahm der israelische Philosoph Mosche Halbertal meine Familie und mich mit nach Me’a She’arim, ein zutiefst orthodoxes Viertel in Jerusalem, zu dem wir sonst niemals Zutritt gehabt hätten, um dort eine Schule zu besuchen. Halbertals Gedanken über Ethik und Moral durchdringen sämtliche seiner genau überlegten, manchmal umstrittenen Ansätze zu einigen der schwierigsten politischen und spirituellen Themen, mit denen sich unsere Welt heute konfrontiert sieht, unter anderem dem Moralkodex der israelischen Verteidigungsstreitkräfte, an deren Formulierung er beteiligt war. Ich schaute durch ein Fenster den Knaben in der Schule zu, die wiegend beteten, sangen und über die möglichen Deutungen einzelner Verse der Thora diskutierten. Hier wurde keiner Lesart Vorrang eingeräumt, sondern es galt, eine ganze Weltgeschichte an Kommentaren auf diese oft so dürren Textzeilen anzuwenden. Von diesen jungen Lesern wurde erwartet, dass sie ihr Wissen um das Denken der Vergangenheit – in diesem Fall viele Jahrhunderte Geistesgeschichte – als Ausgangspunkt für ihr eigenes verwendeten.

Im Ernst – das ist ein Beispiel für kritisches Denken? In einem Viertel, in dem Nichtorthodoxe offenbar ansonsten noch nicht mal Zugang haben, lernt man die Vielschichtigkeite der Interpretation? Anhand der Thora und der Frage, was Gott wohl mit diesem Buch gemeint habe? Und Mosche Halbertal, der davon überzeugt ist, dass die religiöse Erziehung, überhaupt alle irgendwie religiösen Einrichtungen von Staats wegen unterstützt werden müssen und über den man in der englischen Wikipedia liest „‚According to Halbertal, what ‚distinguishes between the so-called ultra-Orthodox point of view and a modern Orthodox or modern approach (is) that tradition doesn’t monopolize all of value, all of truth‘.'“ Nicht jede Wahrheit, jeder Wert soll also von den Ultra-Orthodoxen bestimmt werden (sondern auch von den „modernen Orthodoxen“)? Wobei mir diese „modernen“ Gläubigen (welcher Religion auch immer zugehörig) in ihrer intellektuellen Unredlichkeit und Dummheit noch viel mehr zuwider sind als die Orthodoxen, die ihre rückwärts gewandte, einem antiquierten Stammesdenken verhaftete Weltsicht wenigstens klar und deutlich zum Ausdruck bringen und keine kunstreichen Volten vollführen, um religiösen Unsinn irgendwie annehmbar zu machen. Man belächelt so gerne den Präsidenten der USA, wenn dieser die Injektion von Desinfektionsmitteln empfiehlt oder erzählt, dass man in Österreich in Waldstädten lebe und explodierende Bäume viel besser im Griff habe (wenn ich davon gewusst hätte, bevor ich diesen mich umgebenden Wald gekauft habe …). Aber es gilt auch in intellektuellen Kreisen immer noch als annehmbar, wenn man an einen jüdischen Berg- und Wettergott glaubt, der vor 2000 Jahren seinen Sohn durch eine Jungfrau auf die Erde geschickt hat und ein paar hundert Jahre später einem schreibunkundigen Schafhirten durch den Erzengel Gabriel ein heiliges Buch diktiert hat usf. Und ja – ich finde dieses implizite Toleranzgefasel gegenüber „altehrwürdigen“ Religionen zum Kotzen, es ist eine intellektuelle Bankrotterklärung und Wasser auf den Mühlen derer, die für ihren lieben Gott so gern durchs Feuer gehen (aber noch viel lieber andere – Ungläubige – opfern). Da schwadroniert jemand vom Wert des kritischen Denkens und ist noch nicht mal in der Lage (aus verquerer Solidarität zum Judentum?) offenkundige Indoktrination und antiquierteste Wertvorstellungen zu erkennen. Das macht es enorm schwer, die teilweise klugen Betrachtungen der Autorin zu würdigen, weil man gleichzeitig erfährt, dass ein fundiertes selbstkritisches Denken nicht zu den die Autorin konstituierenden Fähigkeiten gehört.


Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen. München: Penguin 2019.

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