Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte

Francis Fukuyama verkündete zu Beginn der 90er (nach dem Zusammenbruch des Ostblocks) das „Ende der Geschichte“ und wollte im Sinne klassischer Theorien Universalgeschichte schreiben: Geschichte also, die auf ein Ende zustrebt, ein Telos besitzt (und deren Eigenart darin besteht, das sie stets dann endet, wenn der betreffende Universalgeschichtsschreiber sein Werk schreibt). Für ein derartiges Vorhaben liegt es nahe, sich an dem Klassiker der Geschichtsphilosophie (-prophetie) ein Beispiel zu nehmen, nämlich Hegel. Und das tut Fukuyama, ausgiebig und mit zahlreichen Verweisen, wobei sein zweites Vorbild Alexandre Kojève ist, der sich ebenfalls am Erfinder des Weltgeistes orientiert (und delektiert) – und so nebenher das Ende der Geschichte (seiner Lebensdaten entsprechend) 50 Jahre früher ansetzte.

Fukuyamas Endzustand ist die liberale Demokratie inklusive kapitalistischer Marktwirtschaft (in unterschiedlichen Ausprägungen). Darunter versteht er kein Schlaraffenland, in dem Freiheit und Wohlstand gedeihen (wobei es manchmal doch ein wenig danach klingt), sondern zeigt anhand zahlreicher Beispiele (denen man oft zustimmen kann), dass ein allgemeines Mitbestimmungsrecht und eine weitgehend freie Entfaltung der Ökonomie jene beiden Säulen sind, die bislang die besten Ergebnisse bezüglich des Lebensstandards gezeitigt haben. Außerdem habe gerade das 20. Jahrhundert die Unzulänglichkeit totalitärer Strukturen bewiesen – sowohl Faschismus als auch Kommunismus konnten sich aufgrund mangelnder Legitimität der Herrschaftsstrukturen nicht halten, Ähnliches zeige sich auch in den Ländern Lateinamerikas oder Südostasiens. Eine totale Überwachung habe sich als nicht gangbar herausgestellt, außerdem verhindern totalitäre Strukturen das Entstehen einer prosperierenden Wirtschaft (schon hier kann man amüsiert feststellen, dass Fukuyamas Prognosen noch nicht einmal die letzten 30 Jahre überdauert haben und es ist nicht wahrscheinlich, dass die weitere Zukunft die Thesen bestätigen werden).

Sein teleologisches Geschichtsbild (und er ist – wie weiland Hegel – ein ausgewiesener Befürworter der Teleologie) gründet sich auf die Entwicklung der Naturwissenschaften. Hier kann er – ohne allzu schnell in Erklärungsnöte zu geraten – tatsächlich von einem Fortschreiten sprechen, von einer unzweifelhaften Entwicklung zu einem Mehr an Wissen. Das würden nun auch die wenigsten bestreiten, hingegen ist es mehr als fragwürdig, dass man den Verlauf dieser Entwicklung vorhersehen kann (im Gegenteil – nichts scheint weniger vorhersehbar als der naturwissenschaftlich-technische Prozess), wobei der Autor auch in diesem Bereich mit der rezenten Entwicklungsstufe das Ende* gekommen sieht: Es gäbe aufgrund der erreichten Zufriedenheit aller Orten keinen Grund für eine weitere Beschäftigung mit den Wissenschaften, selbst die Kunst würde an ein Ende kommen, weil der Antrieb für ein solches Schaffen in ein bloßes Genießen des Vorhandenen fließen würde. Allerdings befallen Fukuyama denn doch Zweifel im letzten Abschnitt seines Buches, er erinnert sich an den „letzten Menschen“ Zarathustras, diesen selbstgenügsamen, dümmlichen Bourgeois, von dem die Menge zwar fordert, dass man „ihn ihr geben solle“, der aber als ein letztes, zu erreichendes Ziel wenig Attraktivität ausstrahlt.

All diese Gedanken beruhen auf dem von Hegel entlehnten dialektischen Konzept von Herr und Knecht: Jener setzt sein Leben ein um zu herrschen, dieser überlebt zum Preise des Beherrschtwerdens. Beide Teile sind mit diesem Zustand nicht wirklich glücklich, denn jeder will im Grunde Anerkennung (Fukuyama führt den griechischen Begriff „thymos“ für diesen Wunsch nach Anerkennung ein, der aber von der ursprünglich platonisch-sokratischen Bedeutung abweicht). Diese Anerkennung wird weder dem Herrn zuteil (der nur kraft seiner Macht herrscht, aber nicht anerkannt wird) noch dem Knecht – als jemandem, der sich unterzuordnen gezwungen sieht. Eine solche allseitige Anerkennung ist nur durch die liberale Demokratie zu erreichen, durch eine Gesellschaftsordnung, die auf dem Gleichheitsgrundsatz basiert. Dass der Mensch so einfach aber nicht zur Zufriedenheit gelangt, dass die Gleichheit dem Wesen des Menschen nicht genügt, ist Fukuyama klar: So weist er darauf hin, dass die Isothymia (das bloße Vorhandensein des Gleichheitsgrundsatzes) häufig (immer?) in eine Megalothymia umschlägt, die darauf abzielt, den anderen Menschen zu imponieren, sie zu beherrschen, sich als der Bessere zu erweisen. Eigenartigerweise kommt Fukuyama hier (und auch in anderen Bereichen) über das bloße Konstatieren einer solchen Problematik nicht hinaus, er stellt dann ganz allgemein fest, dass die liberale Demokratie in der Lage wäre, megalothymische Auswüchse zu beschränken.

Das Interessante und Lesenswerte an Fukuyamas Entwurf ist die Tatsache, dass er viele jener problematischen Prozesse thematisiert, die in den letzten 30 Jahren virulent geworden sind. Er ist keineswegs blind für den Bereich des Nationalismus, für religiöse und ethnische Identifikationen, die von ungleich größerem Belang sind als die kleinen Freuden des „letzten Menschen“. Und obwohl er keine Lösungen anbieten kann, bleibt er befangen in den hegelschen Denkfiguren von einer sich dialektisch entfaltenden Geschichte mit dem von ihm konstatierten Ende. Dass dieser teleologische Ansatz völlig hoffnungslos ist, bedarf im Grunde keiner weiteren Erörterung, es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die letzten knapp 30 Jahre die Annahmen des Autors mehr-weniger deutlich widerlegt haben. Dass – und warum – Geschichte nicht vorhersagbar ist, sein kann, hat Popper (und nicht nur er) gezeigt: Wären derartige Prognosen möglich, würden wir daher einerseits bereits heute über alle zukünftigen Entwicklungen Bescheid wissen (und das Ende der Wissenschaft und Kunst ist nun in den vergangenen Jahren wahrlich nicht eingetreten) – und könnten andererseits aufgrund dieses Wissens diese prognostizierte Zukunft ändern. So wird weder der Hegelschen Weltgeist zu sich selbst kommen, noch die Marxsche Herrschaft des Proletariats anbrechen – und auch die liberale Demokratie wird nicht den Schlussstein der menschlichen Geschichte bilden. Schwer begreiflich scheinen mir solchen Theorien deshalb, weil es sich bei ihren Verfassern zumeist um historisch äußerst belesene und kompetente Personen handelt, die aber offenkundig von ihren Ideen derart beherrscht werden, dass sie diesen alle auftretetenden Disparitäten mit Gewalt unterordnen. Und die auch die Kürze der bisherigen menschlichen Geschichte nicht ansatzweise zur Kenntnis nehmen, wie eben Fukuyama ein Ende der Geschichte prophezeihen und dabei keinen Gedanken an eine Zeit in 5000, 10000 oder mehr Jahren verschwenden, in der solche Prognosen bestenfalls Zeugnis skurriler Überlegungen sein werden.**

Fukuyama hat seine grundsätzliche These nicht zurückgenommen (allerdings zahlreiche Probleme eingestanden angesichts der Entwicklung der letzten 30 Jahre): Und das, obwohl er im letzten Teil – so jedenfalls mein Eindruck – sein Programm recht skeptisch betrachtet hat. Ihm schien klar zu werden, dass der Mensch kein „Animal rationale“ (wie auch in den Wirtschaftswissenschaften lange Zeit angenommen) ist, sondern gerade der von ihm als thymos bezeichnete Teil durch irrationale Elemente beeinflusst wird. Stolz, Gerechtigkeitsempfinden (das selbst bei Primaten nachgewiesen wurde und rein rationalem Handeln entgegensteht), Gemeinschaftsdenken etc. sind sehr viel stärker handlungsrelevant als lange angenommen, sie werden vor allem dort zum Vorschein kommen, wo es zu diesem „letzten Menschen“ nietzscheanischer Prägung kommt (etwa in der Gegenwart in Westeuropa): Der Hartz IV-Empfänger ist keineswegs glücklich mit seiner lebenslangen, bescheidenen Absicherung, sondern wünscht sich ein sehr viel stärkeres Gefühlserlebnis und sucht derlei im Entdecken von nationaler Identität, im Kampf gegen Andersartige (wer immer das dann ist – ob Establishment oder Einwanderer) zu erfahren. Zufriedenheit durch materielle Absicherung vermag nur derjenige zu empfinden, der entweder den entsprechenden Mangel schon erfahren hat oder aber diese Absicherung als Grundlage für andere, individuelle Ziele betrachtet (und wenn es bloß im Sammeln von Briefmarken besteht). Vom Brot allein lebt der Mensch nur dann (und über nicht allzu lange Zeit) einigermaßen zufrieden, wenn er gerade dem Hungertod entronnen ist.

Prognostik oder – wie von Fukuyama angestrebt – Universalgeschichte muss (wenn sie überleben will) die Grundprinzipien der Horoskopschreiber beachten: Auf detaillierte Vorhersagen verzichten und dem Leser einen möglichst großen Interpretationsspielraum einräumen. Dadurch wird sie zwar vollkommen inhaltsleer, es werden sich aber stets eine erkleckliche Zahl an Menschen finden, die sich mit viel Scharfsinn der Umschreibung und Neudeutung widmen, um den jeweils aktuellen Umständen gerecht zu werden. Und sie haben in der marxistischen Literatur einen ungeheuren Fundus, aus dem sie sich zu diesem Zwecke bedienen können.


*) Dass aber gerade der Entwicklungsstand der 90er nicht endlos fortgeschrieben werden kann, ist evident: Fast die gesamte Energiegewinnung wurde durch fossile Brennstoffe erzielt – und deren Vorräte werden sich ganz unzweifelhaft erschöpfen.
**) Die einzige Möglichkeit, zu einem derart apostrophierten Ende der Geschichte im Hier und Jetzt zu kommen, besteht in der konsequenten Vernichtung der Menschheit: Was einzig durch Atomwaffen wirklich sauber vollzogen werden könnte. Selbst die eklatanteste Umweltzerstörung wird wohl nicht ausreichen, dem Homo sapiens auf dem ganzen Planeten den Garaus zu machen, auch wenn Milliarden Menschen das Zeitliche segnen sollten.


Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. München: Kindler 1992.

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