Archilochos gilt als derjenige, der das „Ich“ in die europäische Lyrik eingeführt hat. Natürlich hat schon vor ihm Homer seine Odyssee anheben lassen mit den berühmt gewordenen Worten Sage mir, Muse, die Taten … Aber das „Ich“, das hinter dem Wort mir von Homer steckt, ist noch kein persönliches. Es ist noch der Sänger im Allgemeinen. (Weshalb wir auch über die Persönlichkeit Homers so gar nichts wissen.) Archilochos‘ „Ich“ aber, etwa 150 Jahre jünger, erzählt in seinen Gedichten Erlebnisse einer ganz konkreten Person. Meist geht man heute davon aus, dass diese Person mit Archilochos identisch sei, das lyrische Ich also erzähle, was dem Autor tatsächlich zugestoßen ist. Im Normalfall gilt das als typische Fallgrube der Interpretation, in die vor allem StudentInnen der Literaturwissenschaften im ersten Semester gerne plumpsen. Bei Archilochos tun das selbst die ausgebufften Profis, die Altphilologen, und sie mögen für einmal Recht haben.
Selbst so ist über Archilochos sehr wenig bekannt. Er war offenbar sein Leben lang Soldat und lebte in einer griechischen Kolonie, die er gegen deren Feinde (also die eigentlich dort einheimisch Gewesenen) verteidigen half. In so einer Schlacht ist er offenbar auch ums Leben gekommen. Sein Kriegertum wird daraus erschlossen, dass viele seiner Gedichte sich um den Kampf drehen und um das Handwerk des Soldaten. Daneben erfahren wir von einer unglücklich verlaufenen Liebe, indem zunächst der Vater der Braut das Archilochos bereits gegebene Eheversprechen zurücknahm, danach offenbar auch die Ex-Verlobte sich nicht allzu nett über den Verflossenen äußerte. Archilochos ist einer der ersten Künstler, der seine Kunst dazu gebraucht (missbraucht?), sich öffentlich, in persönlichen Invektiven, an anderen zu rächen und sie bloss zu stellen.
Für seine Gedichte greift Archilochos gerne auf Älteres zurück. Keines ist heute noch ganz überliefert, aber die erhaltenen Fragmente weisen darauf hin, dass er sich bei Homer bediente, bei Hesiod oder in tradierten Fabeln (Aesop?). Seine schönsten Stellen aber hat er dort, wo Eigenes aufblitzt. So finden wir eine Generation vor Sappho bereits sehr persönliche Liebesgedichte, die Freude und Schmerzen des Liebens thematisieren. Daneben ist vor allem jenes Gedicht berühmt geworden, in dem er das berühmte Diktum einer spartanischen Mutter an ihren Sohn „Du kommst entweder als Sieger mit deinem Schild heim, oder als Toter auf deinem Schild!“ persifliert. Archilochos‘ lyrisches Ich (also Archilochos selber?) hat – umzingelt von Feinden – seinen Schild weggeworfen, um schneller davon rennen zu können. Einen neuen Schild, meint er lakonisch(!), kann ich mir wieder kaufen – ein neues Leben nicht. Kein Wunder, hat ihn die Antike zwar postum als Dichter schon bald neben Homer auf die gleiche Stufe gestellt, seine Zeitgenossen aber ihn als Menschen verachtet. (Warum er später nahezu vergessen ging, können wir heute nicht mehr sagen. Vielleicht eben wegen seiner großen Ehrlichkeit und seines gesunden Menschenverstandes?)
In der von mir gelesenen Ausgabe, herausgegeben und übertragen von Kurt Steinmann, sind die Gedichte thematisch angeordnet worden: Krieg – Thasos (die Kolonie, in der er lebte) – Zeitgeschichte – Lebensgesetze – Kampf und Selbstbehauptung – Kult und Kunst – Liebe und Freundschaft. Das gibt eine Ahnung von der Spannweite der Themen, die Archilochos behandelte. Im Übrigen kann ich meine kleine Ausgabe (Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 1998. Insel Taschenbuch 2215) nur empfehlen. In Steinmanns Übersetzung nehmen die Fragmente Archilochos‘ einen gleichzeitig archaischen und expressionistischen Charakter an, der sie sehr interessant zu lesen macht.