Eugen Ruge: Metropol

Eugen Ruge war mir gerade einmal dem Namen nach bekannt, als einer jenen vielen, die ab und zu einen Literaturpreis gewinnen und die ephemere Bekanntheit durch vermehrte Produktion in klingende Münze verwandeln. Ohne nun ein anderes Buch als das vorliegende von ihm zu kennen, dürfte dies eine Fehleinschätzung gewesen sein: Denn „Metropol“ ist ein mehr als gelungener Roman, ein großartiges Stück Literatur mit glänzend gezeichneten Charakteren und gleichzeitig eine psychologisch feinfühlige Zeichnung des Menschen unter dem Einfluss einer ihn überwältigenden Ideologie.

Es ist die Zeit des stalinistischen Terrors der 30er Jahre: Charlotte und Wilhelm, beide Mitarbeiter des OMS (einer nachrichtendienstlichen Abteilung für Auslandsverbindungen), werden von ihrem Arbeitsplatz abgezogen und ins Hotel Metropol umquartiert. Vermuteter Grund für diese Suspendierung dürfte ihre Bekanntschaft mit Alexander Emel sein, einem Universitätsprofessor, von dessen Verurteilung als Hochverräter sie aus der Zeitung erfahren. Nun beginnt die Zeit des Wartens, ein kafkaesk anmutendes Warten – auf Rehabilitierung (aber ist eine solche überhaupt notwendig?, sie haben sich doch nichts zuschulden kommen lassen und niemand hat ihnen etwas vorgeworfen), auf Wiedereingliederung in das kommunistische Projekt, auf das Klopfen um halb vier Uhr früh und den Abtransport in die Ljubjanka, auf eine Nachricht aus dem Schloss (über einen Prozess, von dem sie noch nicht einmal wissen, ob er denn eröffnet wurde). Nach und nach füllt sie das Hotel mit ebenfalls suspendierten Schicksalsgenossen, ihren früheren Arbeitskollegen: Jeder ist verdächtig, keiner – und sei er noch so einflussreich – davor gefeit, in den Untiefen des Gulags für immer zu verschwinden.

Man geht in sich: Welche Verfehlungen hat man sich zuschulden kommen lassen, einen geschönten Lebenslauf, Freundlichkeiten gegenüber später verurteilten Bekannten, Äußerungen, die ein trotzkistisches Gedankengut vermuten lassen würden (wobei – was ist denn eigentlich trotzkistisch?), wo hätte man achtgeben müssen auf ein vielleicht subversives Verhalten? Und ein Gedanke, den man noch nicht einmal sich zu denken getraut, der sich aber in stillen Stunden, im Geheimen manchmal Bahn bricht: Sind alle die Veurteilten denn tatsächlich zu Recht verurteilt worden? Selbst wenn es solche Zweifel gibt, ihnen darf kein Raum gegeben werden, im Gegenteil: Man verfasst Bekenntnisse, nimmt die Schuld auf sich, nicht immer die nötige Aufmerksamkeit an den Tag gelegt zu haben und dadurch konterrevolutionären Strömungen nicht sofort entschieden entgegengetreten zu sein, man erörtert Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten, spürt allüberall die Gefahr, sieht das Verschwinden der Kollegen, hört ihren nächtlichen Abtransport – bis schließlich nur noch Charlotte und Wilhelm zurückbleiben. Warum sie – warum nicht? Die Entscheidungen des Schlosses bleiben bis zuletzt unergründlich, ob und in welchem Ausmaß Realität und Vorstellung übereinstimmen, vermag niemand zu beurteilen.

Diese prekäre Situation darzustellen, das verbissene Festhalten an einer Ideologie, einer Idee, das Selbstverbot des Zweifelns ist Ruge auf mehr als beeindruckende Weise gelungen. Ein Lehrstück über unbedingten Autoritätsglauben – besser: Über den Versuch eines solchen Glaubens. Und das mit allen Konsequenzen, mit dem langsamen Verfall aller menschlicher Werte (so ertappt Charlotte sich bei dem Gedanken, dass unter bestimmten Umständen ja doch nur Wilhelm betroffen sein würde – oder nicht?), mit der Preisgabe des logischen Denkens, der Anerkennung einer Macht, der in ihren undurchschaubaren Ratschlüssen gefolgt werden muss. Über allem die Angst, der Wunsch, dass man selbst überleben möge, daneben die Hoffnung, dass all das vielleicht doch gerecht sein könnte, gerecht sein muss. Denn wäre dem nicht so, wären diese kleinbürgerlichen Zweifel berechtigt, so stünde alles zur Disposition: Die Ideologie, die Partei – und das ganze eigene Leben.

Ruge hat hier einen Roman verfasst, einen Roman, der allerdings auf Recherchen beruht, die seine eigene Großmutter (Charlotte) betreffen. Er stieß dabei auf erschütternde Dokumente (die Originale sind im Buch abgedruckt), die der erfundenen Handlung eine erschreckende, beängstigende Realität verleihen. Dabei bleiben Wertungen außen vor, er wirft sich nicht zum Richter auf über seine Vorfahren, sondern füllt die Leerstellen mit einem überaus plausiblen Handlungskonstrukt. Seine Großmutter hat nie über diese Zeit gesprochen, Ruge kann sich nur an wenige Szenen erinnern, von denen er vermeint, dass die Erinnerung an diese Zeit wieder präsent wurde. Eine großartige Studie über ideologische Verblendung, über blinden Autoritätsglauben (und der Kommunismus kann durch jede andere politische Strömung, durch jede Religion ersetzt werden) und die sich daraus ergebenden moralischen Abgründe. Ein wunderbarer letzter Roman dieses Lesejahres 2019.


Eugen Ruge: Metropol. Hamburg: Rowohlt 2019.

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