Habent sua fata libelli – auch literarische Werke haben ihr Schicksal. So zum Beispiel Das Phantom der Oper von Gaston Leroux. 1909 erblickte die Geschichte des unglücklichen Erik das Licht der literarischen Welt, als Fortsetzungsroman in einer Pariser Zeitung. Leroux war zu jener Zeit Journalist, ein sehr bekannter Journalist. Als Romancier hatte er zwei Jahre vor dem Phantom auf sich aufmerksam gemacht mit seinem ersten Kriminalroman Das Geheimnis des gelben Zimmers, der Rouletabille (seinerseits fiktiver Journalist) als Ermittler ins Leben rief. Aber der Erfolg des Gelben Zimmers blieb dem Phantom verwehrt. Eine Bearbeitung für die Bühne, die Leroux selber erstellte, hatte noch weniger Erfolg. Nur langsam arbeitete sich das Phantom im Bewusstsein des Publikums in den Vordergrund und wurde Leroux‘ bekanntestes Werk, das Rouletabille in den Hintergrund drängte. Heute ist wahrscheinlich das auf diesem Stoff basierende Musical von Andrew Lloyd Webber bekannter als das literarische Original – so bekannt wohl, dass vielen der Roman als „Buch zum Musical“ verkauft werden könnte.
Die zeitliche Nähe zum Gelben Zimmer merkt man dem Roman vor allem in der Erzähltechnik sehr gut an. Wir finden die gleichen Beteuerungen des Erzählers, dass sich die Geschichte wirklich ereignet hat. Im Fall des Phantoms unterstreicht er seinen Anspruch mit ein paar wahren Ereignissen rund um die Oper und ein paar Halbwahrheiten. Da ist die lange Baugeschichte: Das neue Opernhaus von Paris wurde noch unter Napoléon III in Angriff genommen, um dessen Kaisertum sozusagen das Sahnehäubchen an Ruhm aufzusetzen. Beendet wurde es erst lange nach Napoléons Sturz – eine großartige Gelegenheit für den Erzähler, der Fabel, dass sich Erik, das Phantom, tief unten in den Fundamenten eine eigene Wohnung mit allerhand technischen Schikanen hatte errichten können, etwas Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Dass beim Bau komplizierte Maßnahmen gegen das reichlich vorhandene Grundwasser getroffen werden mussten, wird im Roman zur Grundlage eines erfabelten unterirdischen Sees, auf bzw. über dem das Opernhaus stehen soll (und in dessen Mitte sich Eriks Wohnung befindet). Dass sich in den 1890ern ein Gegengewicht des tonnenschweren Kandelabers im Saal aus seiner Verankerung gelöst und während einer Vorstellung ins Publikum gefallen war, dort eine Concierge erschlagen hatte, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Vorstellung besuchte, wird ebenfalls in die Handlung des Romans eingebaut als ein Umstand, den das Phantom, wenn nicht aktiv hervorgerufen, so doch vorher gewusst hat. Auch wichtigere geschichtliche Ereignisse macht sich Das Phantom der Oper zu Diensten: Dass die Pariser Kommune im Kampf gegen die französische Regierung auch das Opernhaus besetzte und benutzte, entspricht der Wahrheit. Dass sie dort unterirdische Gänge buddelte und Zellen errichtete, in denen sie ihre Geiseln / Gefangenen ‚aufbewahrte‘, war hingegen nur ein Gerücht. Genau dieses Gerücht finden wir im Roman als Tatsache.
Die Behandlung der erzählenden Personen ähnelt in vielem der des Gelben Zimmers. Im Grundsatz haben wir einen den vergangenen Ereignissen Jahre später nachspürenden Journalisten und Ich-Erzähler vor uns, der uns seine Befunde präsentiert. Über weite Strecken wird einfach nur chronologisch berichtet, ohne dass ein eigentlicher Erzähler sich meldet. Aber auch Dokumente Beteiligter werden als „Originale“ eingefügt – die gleiche Technik hat Leroux auch in seinem Kriminalroman um Rouletabille verwendet.
Fazit: In der Behandlung des Stoffs zeigt sich die für Trivialliteratur typische Verspätung in den Epochen und Vermischung derselben. Die Idee eines musikalischen (und technischen!) Genies stammt ebenso aus der Romantik, wie die andere Idee, dass dieser Mann auf Grund seiner Hässlichkeit aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen wird und sich nun an ihr rächen will. Mehr oder weniger unheimliche Genies mit übernatürlicher musikalischer (und / oder technischer!) Begabung kennen wir aus diversen Erzählungen E. T. A. Hoffmanns (Rat Krespel, Nußknacker und Mausekönig – um nur die hier schon vorgestellten Beispiele zu zitieren); ob seiner Hässlichkeit aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen worden ist z.B. das Monster aus Mary Shelleys Frankenstein. Überhaupt spielt – neben der Architektur – Musik die Hauptrolle im Phantom. Wichtige Intrigen, in die das Phantom verwickelt ist, drehen sich um eine Aufführung von Gounods Faust, auch der Kandelaber wird bei dieser Aufführung ins Publikum fallen. Mozarts Don Juan – seinerseits vom Thema her eine ‚romantische‘ Oper – ist offenbar Anregung für eine eigene, selbst Mozart überragende Komposition Eriks. (Die Genialität von Eriks Komposition kann auch Andrew Lloyd Webber in seinem Musical nicht wiedergeben. Literatur, die mich zwingt, mir gewisse Dinge „nur“ vorzustellen, hat gegenüber allen andern Künsten einen großen Vorteil – übrigens auch im Visuellen und Olfaktorischen, hier z.B., was die Darstellung des wie eine Leiche aussehenden und auch so riechenden Phantoms betrifft.) Das Thema einer unglücklichen Liebe – noch ein wichtiger Punkt im Phantom – ist in der hier ausgeführten, selbstzerfleischenden Weise ebenfalls romantisch. Genauer – in Anbetracht des Entstehungsjahres des Romans – ebenfalls zu einem Allgemeinplatz ‚herabgesunkene‘ Romantik: Trivialliteratur.
Das ist also die romantisch-triviale Seite. Auf der anderen Seite bringt der erzählende Journalist eine im eigentlichen Sinn des Wortes ‚aufklärerische‘ Seite ins Spiel. Hierin ähnelt Das Phantom der Oper einem Kriminalroman – ähnelt ihm so sehr, dass diese Schauergeschichte auch schon als solcher bezeichnet worden ist. Tatsächlich beinhaltet der Kriminalroman bis heute jenen Antagonismus zwischen romantischen – weil zumindest auf den ersten Blick unerklärlichen und potenziell ‚übernatürlichen‘ – Ereignissen und deren Rückführung auf ’normale‘ und ’natürliche‘ Ursachen. Die ersten Kriminalromane gab es ja, als mit Poe und Hoffmann der zu ihrer Zeit gerade erst auszufechtende Widerstreit zwischen Romantik und Aufklärung akut geworden war. (Diesem Widerstreit – nebenbei – verdankt nicht nur der Kriminalroman eine Existenz, sondern ebenso der moderne Wissenschaftler, der ebenfalls bisher Unerklärtes logisch-nachweisbar zu erhellen sucht.) Leroux‘ „Aufklärung“ ist – in Anbetracht des Entstehungsjahres des Romans – allerdings abermals zu einem Allgemeinplatz ‚herabgesunken‘. Trivialliteratur.
Was natürlich nicht hindert, dass ich diesen Roman mit Vergnügen gelesen habe. Ich habe dies in einer englischen Übersetzung (von David Coward) getan. Ganz einfach, weil die Folio Society 2019 wieder einmal eines ihrer schönen Bücher herausgegeben hat.
Und ja: Eriks Don Juan würde ich gerne hören…