Campanellas Utopie findet man in der Rezeptionsgeschichte – wo sie denn überhaupt rezipiert wird – auch sinngemäß als „Produkt einer überhitzten Phantasie eines Mönchs“ apostrophiert. Damit wird angespielt auf den Umstand, dass Campanella ein Dominikaner war, der nach einer gescheiterten Revolte, an der er sich beteiligt hatte, lange Zeit im Kerker saß und offenbar auch verschiedene Male schwer gefoltert wurde. Dennoch war es ihm in dieser Kerkerzeit auch erlaubt zu schreiben, und so nutzte er diese Zeit, um vorliegenden Text zu verfassen. (Diese Geschichte klingt seltsam, scheint aber auf Wahrheit zu beruhen.)
Man sollte allerdings mit solchen Aussagen vorsichtig sein, da sie die Relevanz dieses Textes meiner Meinung nach unzulässig verniedlichen. Campanellas Sonnenstaat ist in vieler Hinsicht bedeutend realistischer als die relativ abstrakte Utopie des rund 100 Jahre älteren Thomas Morus. Das fängt schon an mit der geografischen Lage dieses utopischen Reichs: Der Sonnenstaat ist im Grunde genommen eine große und stark befestigte Stadt auf der Insel Taprobana, wie man sie damals nannte, dem heutigen Sri Lanka. Die Beziehungen des Sonnenstaats zu seinen Nachbarn scheinen von recht durchzogener Natur zu sein. Jedenfalls wird die militärische Stärke des Sonnenstaats von Campanellas Erzähler, einem genuesischen Admiral immer wieder hervorgehoben; und der Beschreibung des Heers, seiner Zusammensetzung, seiner Ausrüstung und seiner Kampftaktik werden mehrere Kapitel gewidmet – mehr als allen anderen einzelnen Errungenschaften der Sonnenstaatler. Hier könnte man allenfalls von einer „überhitzten Phantasie“ des Mönchs reden; Campanella rüstet zum Beispiel die Kavallerie des Sonnenstaats mit derart vielen persönlichen Waffen aus, dass ich daran zweifle, ob die Kämpfer in der Hitze des Gefechts überhaupt noch gewusst hätten, welche Waffe sich wo an ihrem Körper befindet und welche wann (d.h.: in welcher Gefechtssituation) eingesetzt werden sollte oder auch nur könnte. Ja, ich bin nicht einmal sicher, ob sich ein derart mit Waffen voll behangener Reiter überhaupt noch einigermaßen befriedigend hätte bewegen können. (Im Übrigen sind auch im Sonnenstaat die meisten Soldaten Miliz. Jeder muss – oder darf, in der Ansicht der Sonnenstaatler – eine längere militärische Ausbildung durchlaufen. Auch die Frauen lernen zu kämpfen – mindestens in dem Maße, dass sie in der Lage sind, die Stadt gegen Angriffe effizient zu verteidigen. Und irgendwie scheinen diese utopischen Staaten, wenn sie denn Krieg führen – die natürlich immer Verteidigungskriege sind! – daraus immer siegreich hervor zu gehen.
Auch sonst gleicht Campanellas utopischer Staat in vielem dem des Morus. Seine Ökonomie ist auf Landwirtschaft und Handwerk ausgerichtet; Handel ist verpönt, Geld wird keines gebraucht, Gold und Silber sind innerhalb der Stadtmauern wertlos. Die Produkte des Landes gehören dem Staat und werden von Staates wegen verteilt. Wer nicht im Anbau von Getreide und Gemüse beschäftigt ist, übt eines der vielen Gewerke aus, die eine Gesellschaft auch dann benötigt, wenn sie utopisch lebt. Denn selbst im warmen Klima jener Insel gehen die Sonnenstaatler nicht nackt, auch wenn ihre Bekleidung und ihr Schuhwerk genauen Vorschriften unterworfen sind. Ebenso halten sie Nutztiere, seien es Zugtiere für ihre Gespanne oder Lieferanten von Wolle und Fleisch. Auch bei Campanella wird gemeinsam gegessen, und ein Vorleser liest während des Essens aus erbaulichen, pädagogisch wertvollen Texten. (Hierin natürlich auch eine Reminiszenz an die Gepflogenheiten, die der Mönch Campanella im Kloster kennen gelernt hatte.)
Der Unterschied des Sonnenstaats zu anderen Utopien liegt weniger in der oft angeführten Gemeinschaft der Frauen. Campanella traut sich hier sowieso nicht so weit zu gehen, wie das große Vorbild Platon. Es sind nur bestimmte Frauen, die allen Männern zur Verfügung stehen: Schwangere(!) oder solche, die offenbar keine Kinder zu empfangen vermögen. Und selbst die stehen auch nur für die Männer zur Verfügung, die (noch) keine eigene Sexualpartnerin haben oder deren Trieb so groß ist, dass er auch außer der üblichen Gepflogenheiten befriedigt werden muss. Im Übrigen aber herrscht Monogamie. Allerdings werden die Partner von Staates wegen ausgesucht und zusammen geführt. Dies erfolgt nach eugenischen Gesichtspunkten: Der Staat will möglichst gleichwertige, möglichst hochwertige Bürger. So werden dicke Frauen mit dünnen Männern zusammen geführt (und umgekehrt) oder lebhafte Frauen mit trägen Männern (wieder: und umgekehrt) in eine Partnerschaft oder Ehe geführt. Das klingt bei Campanella harmlos genug, aber wir wissen seit dem 20. Jahrhundert, wohin solche Gedanken führen können. Nur schon wegen dieser Gedanken sollte man den Sonnenstaat nicht einfach als „überhitzte Phantasie eines eingekerkerten Mönches“ abtun.
Ein anderer Punkt, wegen dessen dieses Buch sehr fleißig gelesen zu werden verdient, ist der politische Aufbau des Sonnenstaats. Die Führung dieses Staats ist hierarchisch fein gegliedert. Jeder Beruf hat ebenso wie jedes Quartier der Stadt seine Oberen, die Exekutive, Legislative und Judikative in einem darstellen. Jeder Obere ist zugleich auch eine Art Priester. So wundert es beim Katholiken Campanella dann wohl nicht, dass jedes Mitglied der Bevölkerung diesen Oberen zu regelmäßiger Beichte verpflichtet ist, diese wiederum ihren Vorgesetzten und so weiter, bis wir beim Höchsten des Staates sind, der die Sünden – wenn auch anonymisiert – zum Besten von Staat und Volk in festgesetzten Abständen öffentlich verlesen zu lassen pflegt. Dieser Oberste des Landes wird HOH oder Sol genannt. Das ‚Kabinett‘ des Sol besteht aus drei ausgewählten Männern, dem Pon (= Macht in der Sprache der Sonnenstaatler; er ist zum Beispiel zuständig fürs Militär), dem Sin (= Weisheit – der Pädagoge des Reichs, aber auch der Wirtschaftsminister) und dem Mor (= Liebe, zuständig für die Fortpflanzung der Sonnenstaatler). Diese vier Männer sind die besten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Es handelt sich beim Sonnenstaat also um eine höchst raffiniert ausgestaltete Theokratie, die die Macht des Sol nur dadurch kaschiert, dass dieser – zumindest de jure – verpflichtet ist, von seinem Amt zurück zu treten, falls einer auftaucht, von dem er findet, dieser sei nun weiser als er. Zu der Zeit, als sich der Genueser im Sonnenstaat aufhielt, war das offenbar nie der Fall…
Was uns Campanella präsentiert, ist de facto eine Mischung aus der Organisation der katholischen Kirche und dem einsetzenden Absolutismus französischer oder spanischer Ausprägung. Oder, anders verortet: Campanella, auch wenn er in seinen Sonnenstaat Sicherheitsventile eingebaut zu haben glaubt, schildert dieselbe Struktur, die vom Machtmenschen der italienischen Renaissance zuerst in der Praxis herausgearbeitet und danach von Niccolò Machiavelli in der Theorie beschrieben wurde, um im Folgenden von den eher lokal- als weltpolitisch bedeutsamen italienischen Stadtstaaten exportiert zu werden in Staaten, die zu jener Zeit europäische Großmächte darstellten. Kirche wie absolutistischer Staat sind für die Freiheit des Menschen brandgefährlich. Konzentrierung der Macht bei einem, der es am besten weiss, oder zumindest am besten zu wissen vermeint, ist der Anfang einer jeden Diktatur. Wie wichtig diese Strukturen aber Campanella waren, zeigt sich nur schon darin, dass die dialogische Einkleidung, auf deren Gestaltung Thomas Morus doch noch so viel Wert gelegt hat, dass ich dessen Utopia sogar als Roman klassifizierte, dass die dialogische Einkleidung, sagte ich, auf ein absolutes Minimum reduziert worden ist. Wir erfahren zu Beginn weder, wann, noch wo sich der genuesische Admiral und sein Gesprächspartner, der Großmeister der Hospitaliter treffen. Die beiden gehen gleich medias in res, indem der Großmeister den Kommandanten auffordert: Wohlan denn, erzähle mir nun endlich, was dir auf deiner Seefahrt begegnet ist! Und ein paar Sätze später sind wir bereits mitten in der Schilderung des Sonnenstaats. Auch danach sind die – häufigen – Unterbrechungen des Großmeisters inhaltlich belanglos und dienen nur dazu, die Übergänge von einem Thema zum nächsten zu bilden oder auch auf eine Wiederholung und Präzisierung von Gedanken zu dringen, die Campanella offenbar wichtig waren.
Alles in allem eine utopische Schrift, die häufiger und genauer rezipiert zu werden alleine schon wegen der Darstellung der frühen Erscheinungsform einer Diktatur mehr als nur verdient hat.
Gelesen in der Version folgenden Taschenbuchs:
Der utopische Staat. Morus • Utopia / Campanella • Sonnenstaat / Bacon • Neu-Atlantis. Übersetzt und mit einem Essay ‹Zum Verständnis der Werke›, Bibliographie und Kommentar herausgegeben von Klaus J. Heinisch. Reinbek: Rowohlt, 1996. (= Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft / Philosophie des Humanismus und der Renaissance 3) [Eine dieser Reihen, die im 20. Jahrhundert auch große Publikumsverlage aufbauten, weil sie sich einem gewissen Bildungsauftrag verpflichtet fühlten. Im 21. Jahrhundert wird auf diesen Auftrag, einen daraus resultierenden Ruhm und guten Ruf nunmehr fröhlich gepfiffen. Wo die Gewinnausschüttung für die Aktionäre wichtig ist, werden alle diese Reihen, da wirtschaftlich uninteressant, ja kontraproduktiv, eingestellt.]