Dabei war – in kulturwissenschaftlicher Hinsicht – all das eigentlich gut gemeint. Ethnologie und Anthropologie bedienten sich bis weit in das 20. Jahrhundert einer offen rassistischen Sprache, sie machten aus der Verachtung der von ihnen untersuchten Gesellschaften und Völker kaum einen Hehl. Diesem westlich-weißen Überlegenheitsdünkel wurde zu Recht ein (und mit mehr oder weniger Erfolg) eine Haltung entgegengesetzt, die anderen Kulturen (wobei unter „anders“ fast alles verstanden wurde, das nicht abendländisch-christliche Wurzeln hatte; allerdings wäre so manches, das sich auf diese vorgeblichen Wurzeln beruft, ohne diesen fremden Einfluss gar nicht möglich gewesen – aber das ist ein anderes Thema) eine Form von Gleichberechtigung zugestand, die Kulturen nicht mehr zu bewerten versuchte (was tatsächlich niemals ganz gelingen kann), sondern deren Eigenheiten als ein befruchtendes Element betrachtete, in jedem Fall aber sie einer bewertenden Beurteilung zu entziehen suchte.
Wie oft bei gut gemeinten Ansätzen wurde alsbald über das Ziel hinausgeschossen: Nicht nur die Kulturen seien einander gleichwertig, auch die mit ihnen verbundenen Epistemologien. Das hieß in der Praxis, die Erde auch mal auf dem Rücken von Schildkröten und/oder Elefanten ruhen zu lassen, Kranke gesundzubeten oder ihnen den konzentrierten Urin des Dalai Lama in Tablettenform zu verabreichen. Die Lakota in Nordamerika glauben an ihre Abstammung von Büffelleuten, die aus dem Inneren der Erde kamen (nachdem diverse Geister diese Erde bewohnbar gemacht hatten). Evolution sei Nonsens (in ihren Augen), entscheidend aber war in diesen ganzen Diskussionen: Alles das sei immer nur ein Glaube – und der an die Wissenschaft besitze nicht mehr Berechtigung als jener an Elefanten (die auf Schildkröten stehen – aber worauf stehen die Schildkröten) oder an aus dem Erdinneren erscheinenden Menschen. Nun ist dem aber nicht so, da es sich mit der Wahrheit einer Aussage anders verhält als mit dem Glauben: Sie kann grosso modo überprüft werden, in dem man schaut, ob der behaupteten Aussage ein Sachverhalt (im entsprechenden Kontext) entspricht. (Dass man dabei niemals absolute Gewissheit erreichen kann aufgrund des Humeschen Induktionproblems spielt keine Rolle: In den allermeisten Fällen kann man mit Fug und Recht diese Unwägbarkeiten vernachlässigen. Denn diese Unwägbarkeiten sind nicht handlungsleitend: Es könnte selbstredend sein, dass man aus dem Fenster des 10. Stocks springt und wohlbehalten und schneller (das in jedem Fall) unten ankommt anstatt den Fahrstuhl zu nehmen. Selbst Hardcore-Skeptiker nehmen aber von dieser Möglichkeit selten Gebrauch.) Der kulturelle Überbau einer Gesellschaft ist hingegen weder wahr noch falsch (außer wenn er Aussagen über die Wirklichkeit trifft, zumeist aber geht es selbst bei solchen Aussagen nicht um Propositionen, sondern um soziologische Implikationen (wie etwa den Zusammenhalt), die damit erreicht werden sollen), er „ist“ ganz einfach und kann tatsächlich nur in relativierender Hinsicht beurteilt werden (nämlich aus der Position einer anderen kulturellen Gesellschaft). Hier gibt es im übrigen sehr viel weniger Unterschiede als sehr oft unterstellt: Das beste Beispiel dafür ist die „goldene Regel“, die sich in zahlreichen Varianten in so gut wie allen Kulturen wiederfindet. Die Gleichberechtigung von Kulturen hat nicht zur Folge, dass über bestimmte Propositionen nicht entschieden werden kann.
Eine andere Folge dieser relativistischen Haltung ist die der „sozialen Konstruktion“: Mit diesem Begriff bezeichnet man gesellschaftliche Sachverhalte, die häufig unerwünscht und durch eine gesellschaftliche Fehlentwicklung verursacht werden. Und der Sachverhalt existiert nicht zwangsläufig, er hätte verhindert werden können bzw. müssen. Nun gibt es zweifelsohne genau solche Probleme: Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frau ist kontingent (auch wenn sie anthropologisch-historisch erklärt werden kann – vor allem durch die Sesshaftwerdung, den Ackerbau), sie ist großteils unerwünscht (abzüglich der Verfechter einer archaischen Familienmoral) und sie könnte geändert werden. Nachdem ein solcher Sachverhalt gefunden worden ist, hat es nicht allzu lang gedauert, bis auch hier der konstruktivistische Kübel sich über alles und jedes ergossen hat: Nun waren Elektronen oder Quarks ebenfalls sozial konstruiert, sie verdankten ihre Existenz einem gesellschaftlichen Übereinkommen und wurden als kontingent angesehen: Eine historisch anders verlaufende Physik hätte nichts annähernd Adäquates finden können. Gerade Naturwissenschaftler verwehren sich gegen solche Annahmen und unterstellen den Betreffenden mangelhafte Kenntnisse (womit sie so unrecht nicht haben dürften bei vielen Geisteswissenschaftlern und was zu beweisen Sokal/Bricmont mit ihrem „Eleganten Unsinn“ gelungen ist), das Problem aber ist wieder ein philosophisch-methodologisches: Soziologische Sachverhalte resultieren aus der Interaktion der Individuen einer Gesellschaft und können keine Wahrheit für sich beanspruchen (nur aufgrund von Prämissen, die der andere aber nicht akzeptieren muss: Ich kann meinem Gegenüber nicht beweisen, dass es falsch ist, seine Frau zu verprügeln, alles, wozu ich argumentativ imstande bin, ist, ihm (möglicherweise) eine Inkonsistenz zwischen seinen Prämissen und dem tatsächlichen Handeln nachzuweisen). Während man über die Beschaffenheit der materiellen Außenwelt selbst in unterschiedlichsten Kulturen im großen und ganzen einig ist: Ein Baum ist ein Gegenstand, dem man besser ausweicht, Felsen ebenso (und die mögliche „Heiligkeit“ von Felsen oder Bäumen berührt diese Übereinstimmung nicht: Ob heilig oder nicht, über die grundsätzliche Beschaffenheit besteht Konsens).
Hackings Buch bringt zu all dem unzählige Beispiele – und in vielem scheint er mehr zur Verwirrung beizutragen denn zur Aufklärung. So nimmt er sich im letzten Abschnitt der sozialen Konstruktion von psychischen Krankheiten an, wobei dies tatsächlich ein Minenfeld ist: Ist eine Krankheit sozial konstruiert, wenn sie in einer Gesellschaft einen bestimmten Namen erhält und aufgrund verschiedener Kriterien diagnostiziert wird, während anderswo das Verhalten als „normal“ angesehen wird? Das führt ihn zu einer Dichotomie, die von Dawkins hier als ein Scheinproblem (bzw. ein Problem auf falschen Grundlagen) entlarvt wird: Hacking unterscheidet zwischen genetischen und kulturellen Voraussetzungen. Es handelt sich aber immer um zahlreiche Kausalitäten, die ein Verhalten bewirken und es spielt keine Rolle, ob diese nun genetisch oder kulturell verursacht sind. Die Vererbung determiniert nicht mehr als die Umwelt (und für diese Erkenntnis muss ich noch nicht einmal Willensfreiheit annehmen: Auch wenn wir eine solche ablehnen, bleiben die kulturellen und genetischen Einflüsse bestehen, nur dass ich dann einen generellen Determinismus habe, der auf beiden Komponenten beruht).
Schon zuvor unterscheidet Hacking zwischen interaktiven und indifferenten Arten (unter „Art“ versteht er jede Art von Entität – ob Kind oder Elektron): Dabei sind interaktive Arten all jene, denen die Klassifizierung – in welcher Form auch immer – bewusst ist und die durch diese Bewusstwerdung einen Einfluss auf die Entität hat. In diesem Fall von sozialer Konstruktion zu reden scheint für Hacking in Ordnung zu sein (er hält mit seiner Meinung allerdings zurück und scheint vielmehr um eine Beschreibung des Problems bemüht), während eine indifferente Art von seiner Klassifizierung nichts weiß und daher ein rekursiver Einfluss unmöglich ist. Das klingt erstmal ganz vernünftig, so lange man zwischen sozialen Bereichen und der materiellen Natur unterscheidet. Aber selbst diese Unterscheidung wird problematisch, etwa bei Hackings Beispiel des frühkindlichen Autismus. Für ihn ist der Autist eine interaktive Art, allerdings gibt es in diesem Bereich Kinder, die ganz sicher nichts von ihrer Diagnose wissen, die interaktiv einzig in der Hinsicht auf ihre Behandlung sind. Noch schwieriger wird eine solche Differenzierung im Tierreich: Primaten sind interaktiv (aber sie haben wohl kein Bewusstsein davon, wie wir über sie denken), Einzeller hingegen nicht (diese interagieren aber ebenso mit der Umwelt – wie auch alle Pflanzen). Im Grunde könnte man dies weiterspinnen bis zu den Elementarteilchen und dabei auf die Unschärferelation verweisen – und ein holistisches Weltbild propagieren, in dem es indifferente Arten nicht gibt. Ich halte diese Unterscheidung schlicht nicht für zielführend, sie führt hingegen zu neuen Spitzfindigkeiten (wie etwa zu dem des Bewusstseins der „Arten“, das dann in Selbstbewusstsein und in ein Bewusstsein des anderen und dessen intendierten Einflusses zerfällt etc.), die die Diskussion darüber, wie denn unsere Welt beschaffen ist, unnötig verkompliziert.
Das Hauptproblem scheint mir darin zu liegen, dass zwischen sozialer und materieller Wirklichkeit nicht unterschieden wird, dass Soziales hypostasiert, Materielles von sozialen Einstellungen abhängig gemacht wird. Der Kurzschluss seitens der Konstruktivisten besteht darin, dass sie aus der höchst trivialen Erkenntnis, dass alle Naturwissenschaft in einem sozialen Umfeld, durch Menschen stattfindet, folgert, diese Umwelt würde erst durch unser Einwirken geschaffen. Selbstverständlich ist die spezifisch menschliche Konstitution bestimmend für das Ausmaß der Erkenntnis unserer Umwelt (Außerirdische mit einer anderen Erkenntnisstruktur hätten eine andere Naturwissenschaftsgeschichte), beide aber würden im Grunde die gleiche Physik, die gleiche Chemie betreiben (weil nichts darauf hinweist, dass etwa chemischen Reaktionen in einem anderen Teil des Universums anders ablaufen würden). Zu all dem hat im übrigen ein (missverstandener) Kant beigetragen, auch Popper, der immer nur den letzten Teil aus der „Prolegomena“ zitierte, beigetragen: „Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen, oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen, bloß die Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden, und in Ansehung der letztern ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei, und, da in dieser die Gesetzmäßigkeit auf der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung (ohne welche wir ganz und gar keinen Gegenstand der Sinnenwelt erkennen können), mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes beruht, so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichts desto weniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letztern sage: der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“ Was hier mit Vorschreiben bezeichnet wird, ist keine Erschaffung der Welt, sondern die Abhängigkeit unserer Erkenntnis von unseren Verstandesfähigkeiten (wobei man die kantschen Kategorien und Anschauungsformen keineswegs akzeptieren muss: All das ist evolutiv geworden).
Das hier ist keine Buchbesprechung im üblichen Sinn, eine solche zu verfassen wäre sehr umfangreich und problematisch: Hacking wirft zum einen zahlreiche neue Fragen auf (etwa zum Nominalismus), nimmt aber selten dezidiert Stellung. Eigentlich schätze ich den Autor wegen seines Stils, seinem Bemühen um Klarheit, dieses Buch aber scheint nur die Komplexität der Thematik zu betonen, es beschreibt die Schwierigkeiten, zeigt neue Ansätze auf, ohne Lösungen wirklich näher zu kommen (bzw. scheint dies gar nicht zu wollen). Ich halte das Problem der Realität der Außenwelt (um das es im Grunde sich handelt) für weit weniger schwierig als oft angenommen (und für eng mit dem Dualismus verknüpft: Wer dem Geist, dem Denken eine eigene Welt reserviert und die Tatsache ignoriert, dass dieses unser Denken eine gleiche materielle Basis hat wie alles andere uns Umgebende, muss auf Schwierigkeiten mit der Außenwelt stoßen). Dieser dualistische Ansatz kommt auch Hacking in die Quere: Wenn er eine Unterscheidung zwischen genetischen und kulturellen Komponenten triff und für jene eine Determiniertheit suggeriert, die diesen fehlt. – Lesenswert trotz allem, weil mit vielen interessanten Überlegungen gespickt, ohne entsprechende Liebe zur Thematik allerdings mühsam.
Ian Hacking: Was heißt soziale Konstruktion? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften.