Menschheitsdämmerung

Anthologien, also Sammlungen von Texten verschiedener Autoren, kann man grob in zwei Kategorien einteilen:

Da sind die Anthologien, die Texte zu einem bestimmten Thema vereinen. Häufig werden diese Texte von der Herausgeberschaft mit eigenen Überleitungen eingeführt, kommentiert. Sie dienen oft universitärem Gebrauch, als Reader für ein- oder weiterführende Veranstaltungen zu eben diesem Thema. Seltener verwendet man sie schon auf gymnasialer Stufe. Sie haben – vorausgesetzt, die Herausgeber haben ihre Hausaufgaben gemacht – den Vorteil, dass sie in nuce, und einigermaßen preiswert, die wichtigsten Texte zum Thema anbieten. Die Selektionskriterien der Auswahl müssten eigentlich bekannt gegeben werden. Man kann die Selektion kritisieren (sie wird es meist auch, und meist von Fachkollegen der Herausgeber – was das gute Recht von Fachkollegen ist).

Dann gibt es jene anderen Anthologien, die zwar ebenfalls Texte zu einem bestimmten Thema versammeln. Aber dieses Thema ist dann eher ein allgemeines. Jahreszeiten bieten sich gerne an, oder das Thema ‚Liebe‘. Hier hält sich die Herausgeberschaft meist zurück mit Kommentaren und Einleitungen – wenn sie überhaupt welche liefert. Wenn sie überhaupt genannt wird. Der Anteil an Lyrik in diesen Anthologien ist naturgemäß groß.

In beiden Fällen sind Anthologien verlegerische Projekte, die sich kaum auf den Besten-Listen des Spiegels oder anderer Zeitschriften wieder finden. Sie sind eher Long-Seller als Best-Seller. Die zweite Sorte Anthologie erlebt allenfalls ein kleines Zwischenhoch an Weihnachten. Auch als Geburtstagsgeschenke sind sie beliebt – wenn einem denn gar nichts anderes mehr für die zu Beschenkenden einfallen will.

Und dann haben wir noch die Menschheitsdämmerung. Obwohl es sich hier um eine Sammlung von Texten zu einem bestimmten Thema handelt (gemäß Untertitel der ersten Auflage eine Symphonie jüngster Dichtung), war sie nicht als Reader für universitäre Zwecke gedacht; auch fehlten zusätzliche Erläuterungen des Herausgebers. Es handelt sich um eine Anthologie lyrischer Texte. An und für sich, wie oben erläutert, sind solche Ausgaben prädestiniert bestenfalls für einen Long-Seller. Gegenwarts-Lyrik allerdings nicht einmal dafür. Im Grunde genommen war das hier wohl zunächst ein Liebhaber-Projekt eines Verlegers, der es sich noch erlaubte, auch Bücher zu verlegen, weil sie ihm gefielen und nicht, weil er sich davon Rendite erhoffte, die er seinen Shareholdern präsentieren musste: Ernst Rowohlt.

Doch es ereignete sich ein kleines Wunder: Innerhalb von zwei Jahren nach der ersten Veröffentlichung 1919 (vordatiert auf 1920) hatten bereits vier Auflagen stattgefunden – und keine kleinen. Menschheitsdämmerung war in kürzester Zeit zur berühmtesten Anthologie expressionistischer Dichtung geworden. Dabei – und die Literaturkritik im 21. Jahrhundert wirft das dem damaligen Herausgeber Kurt Pinthus gerne vor – waren die Auswahlkriterien unklar. Es war mehr ein Projekt unter Freunden und Gleichgesinnten, denn eine repräsentative Auswahl. Zum Erfolg trug vielleicht auch ein bisschen das Gefühl leisen Schauers in der Leserschaft bei – denn bereits 1919 lebten 6 der 23 versammelten Autoren nicht mehr. Sie waren alle – mit der Ausnahme Georg Heyms, der beim Schlittschuhlaufen auf der Havel eingebrochen und ertrunken war – im Ersten Weltkrieg geblieben. Ihr Tod wurde umso tragischer empfunden, als alle diese Expressionisten im Grunde genommen den Krieg verabscheut hatten. Ludwig Rubiner starb kurz nach der Veröffentlichung der Menschheitsdämmerung, 1920, an einer Lungenkrankheit. Fast ein Drittel der Autoren lebte also beim Erscheinen der Anthologie auf dem Markt bereits nicht mehr – was die Menschheitsdämmerung zu einer Art Epitaph des Expressionismus werden ließ.

Der Erfolg der Menschheitsdämmerung wiederholte sich in kleinerem Ausmaß noch einmal, als 1955 Kurt Pinthus und der Rowohlt-Verlag eine neue Ausgabe davon veröffentlichten. Auch hier war wohl nicht (nur) die meist unbestreitbare Qualität der versammelten Gedichte der Grund für den erneuten Erfolg. Gedichte verkaufen sich auch dann schlecht, wenn sie gut sind. Es war eher ein erneutes Schauern, das das Publikum durchlief. Zu den sechs bereits im Ersten Weltkrieg gestorbenen Autoren, dem 1920 verstorbenen Rubiner und Däubler († 1934 – ebenfalls an einer Lungenkrankheit) kam nun die Schar jener, die von den Nationalsozialisten des Dritten Reichs vertrieben und / oder umgebracht worden waren. Vertrieben hatten die Nazis fast alle (berühmte Ausnahme: Benn), umgebracht viele, einige waren durch Selbstmord den Konzentrationslagern entkommen. Denn viele der 23 Autoren der Menschheitsdämmerung waren Juden, Kommunisten oder beides – schon im Kaiserreich keine gute Voraussetzung fürs Überleben, auch nicht während der Weimarer Republik. Und nun erst im Dritten Reich…

Doch der Schauer macht nicht den ganzen Erfolg aus. Es ist auch die Qualität des Gebotenen. Natürlich kann man das eine oder andere Gedicht aus dem einen oder anderen Grund kritisieren und sich wünschen, Pinthus hätte ein anderes Gedicht des nämlichen Autors gewählt – oder gar einen ganz anderen Autor. (Dass ich die männliche Form verwende, hat einen einfachen Grund: Mit Ausnahme von Else Lasker-Schüler sind keine Frauen in der Menschheitsdämmerung vertreten. Wir finden Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Iwan Goll, Walter Hasenclever, Georg Heym, Kurt Heynicke, Jakob van Hoddis, Wilhelm Klemm, Rudolf Leonhard, Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz, Karl Otten, Ludwig Rubiner, René Schickele, Ernst Stadler, August Stramm, Georg Trakl, Franz Werfel, Alfred Wolfenstein und Paul Zech – um alle Namen aufzuführen.) Aber dennoch muss man es Pinthus lassen, dass er keine üble Auswahl getroffen hat. Vor allem darf der Untertitel der ersten Auflage (die von 1955 und später trug dann als Untertitel Ein Dokument des Expressionismus – ich komme noch darauf) nicht außer Acht gelassen werden. Die Anthologie ist in vier Teile gegliedert (Sturz und Schrei, Erweckung des Herzens, Aufruf und Empörung, Liebe den Menschen), in bewusster Anlehnung an viersätzige Symphonien Ludwig van Beethovens. Innerhalb eines solchen Satzes können wir verfolgen, wie die Motive sich von Gedicht zu Gedicht, von Autor zu Autor wiederholen und in einander überleiten. Es lag hinter der Auswahl, der Reihung der Gedichte, also künstlerische Absicht. Ebenso hinter dem Umstand, dass von jedem Autor zwanglos eine Porträt-Zeichnung in den Text eingefügt wurde – einige davon von bekannten Malern der Epoche: Oskar Kokoschka, Marc Chagall oder Eugen Schiele.

Menschheitsdämmerung hat unser Bild des Expressionismus unwiderruflich geprägt: Das Zwiespältige, sich Widersprechende (das von Pinthus in seinem Vorwort von 1955 mit der coincidentia oppositorum des Kusaners verglichen wird), die machen, dass man sowohl Diderot wie Novalis oder Friedrich Schlegel, Hölderlin wie Feuerbach zu Vorläufern und Ahnherren erklären kann (wiederum Pinthus in seinem Vorwort); Filiationen von und zu Whitman, Pound, Jiménez, Eliot, Saint-John Perse, García Lorca, Wilder sieht, aber auch zu den französischen Symbolisten Baudelaire, Mallarmé oder Rimbaud – nicht zu vergessen natürlich Lautréamont (denn der Überrealismus war, immer gemäß Pinthus, ein Postulat schon des frühen Expressionismus); den Kommunismus neben dem Nihilismus neben dem Humanismus, moderne Technik in ihrem Glanz und Elend neben verwesenden Leichen und modernden Pflanzen, diese völlige Vernichtung und Verwesung wiederum neben der Auferstehung, eine Ausgießung des Geistes neben beißender Kritik am Bourgeois; formale Experimente, z.B. bei Benn, findet man neben in Versmaß, Reim und Rhythmus sehr konservativ gehaltenen Gedichten, z.B. bei Däublin, ohne dass der eine oder der andere ab- oder auffällt. Mit Ausnahme der letzten Punkte ist sich dessen schon Pinthus in seinem Vorwort aus dem Jahr 1955 bewusst. Man hat Pinthus denn auch den Vorwurf gemacht, dass er damit und mit der (abgesehen vom Vorwort und erweiterten Bio- und Bibliografien) unveränderten Veröffentlichung des Fassung von 1919 den Expressionismus ex post von einer lebendigen, wirkmächtigen Bewegung in totes wissenschaftliches Exponat umgewandelt, literaturwissenschaftlich eingesargt und für vergangen, ja obsolet, erklärt habe. Ich verstehe diese Kritik nicht ganz: 1919 und 1955 – bei aller Ähnlichkeit einer Lebenssituation in einem Land, das gerade einen Krieg vom Zaun gerissen und danach verloren hat, sind die Epochen nicht mehr dieselben. Und der Expressionismus war 1955 Vergangenheit – tot! Ihn weiterhin als wirkmächtig betrachten zu wollen, ist eine Missachtung der eigenen historischen Position, der historischen Position des Expressionismus im Jahr 1919 und der historischen Position der deutschen Lyrik, der deutschen Literatur im Allgemeinen, in den 1950ern. Man konnte sich als Autor den Expressionismus allenfalls anverwandeln und auf diese Art wieder beleben, wie es deutsche und jüdisch-deutsche Lyriker und Lyrikerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg getan haben (die Pinthus, der unterdessen in den USA lebte, kaum kannte – gerade Krolow wird erwähnt), aber die Menschheitsdämmerung hatte man hinter sich zu lassen. Dass die Anthologie als ganzes, ebenso wie viele der darin enthaltenen Gedichte, immer noch lesenswert ist, immer noch große Literatur, steht auf einem anderen Blatt.

2019 ist zum 100. Jubiläum des ersten Erscheinens diese Anthologie im Rowohlt-Verlag erneut aufgelegt worden, mit Florian Illies als verantwortlichem Herausgeber. Ich hoffe, ich habe die Angaben auf der Internet-Seite des Verlags falsch verstanden. Denn, was ich zu lesen glaube, ist, dass Illies in den Textkorpus eingegriffen und Gedichte ausgetauscht hat. Meiner Meinung nach ist das ein absolutes No-Go: Die Menschheitsdämmerung ist so, wie sie 1919 und dann wieder 1955 herausgegeben wurde, ein literatur- und rezeptionsgeschichtliches Dokument. Eingriffe darin sind nicht statthaft. Denn, wie gesagt, der Expressionismus als solcher ist tot. Wenn wir von ihm lernen wollen, müssen wir ihn so rezipieren, wie er damals daher kam. Nicht so, wie wir im 21. Jahrhundert wünschen, dass er hätte daher kommen müssen. Wir verfälschen die (Literatur-)Geschichte, indem wir ihre Dokumente verfälschen. Wer glaubt, eine bessere Auswahl treffen zu können als Pinthus (und das ist ex post zweifelsohne möglich), soll sich seine eigene Anthologie basteln. Und schauen, ob sie eben so wirkmächtig werden kann, wie die Menschheitsdämmerung

Jedenfalls habe selbst ich – mit meiner bekannten Abneigung gegen Anthologien im Allgemeinen und im Besonderen – Menschheitsdämmerung gerne und heuer auch nicht zum ersten Mal gelesen. Mir will sogar scheinen, dass jedes Lebensalter in diesen Gedichten Neues oder zumindest anderes findet. Und das ist für mich ein mögliches Zeichen großer Literatur.

Im Übrigen habe ich folgenden Reprint der 1955er Auflage gelesen:

Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien und Bibliographien neu herausgegeben von Kurt Pinthus. Berlin: Rowohlt, 156. – 158. Tsd., 1996. (= Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Deutsche Literatur 4) [Eine dieser Reihen, die im 20. Jahrhundert auch große Publikumsverlage aufbauten, weil sie sich einem gewissen Bildungsauftrag verpflichtet fühlten. Im 21. Jahrhundert wird auf diesen Auftrag, einen daraus resultierenden Ruhm und guten Ruf nunmehr fröhlich gepfiffen. Wo die Gewinnausschüttung für die Aktionäre wichtig ist, werden alle diese Reihen, da wirtschaftlich uninteressant, ja kontraproduktiv, eingestellt.]

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