Ramon Llull: Die neue Logik [Logica Nova]

Wenn Raimundus Lullus das Wort Logik verwendet, versteht er darunter nicht ganz dasselbe, wie wir es heute in der Philosophie im Allgemeinen tun. Er meint damit auch nicht ganz das, was Aristoteles in seinen Analytiken behandelt. Tatsächlich war der Gebrauch des Wortes in der ganzen mittelalterlichen Philosophie ein teilweise anderer, als er es heute ist; aber Lullus weicht in Teilen sogar vom ‘scholastischen Standard’ ab. Das brachte ihn immer wieder in Gefahr, als Häretiker verschrien zu werden, macht ihn aber natürlich für Heutige umso interessanter.

Ein Teil der Differenz zu anderen verdankt sich dem Umstand, dass Lullus offenbar gewohnheitsmäßig in Triaden denkt. Das hat nach ihm erst Nikolaus von Kues weitergeführt in seiner Coincidentia oppositorum. (Der Kusaner besaß eine große Sammlung Llull’scher Bücher, gab es aber vorsichtshalber nicht öffentlich bekannt und verschleierte in seinen eigenen Werken jeden Hinweis auf Lullus. Nach dem Kusaner sollte erst wieder – nein, nicht der Nolaner; Giordano Bruno dachte (man sieht das an seiner Erklärung der Trinität) in Zweiergruppen – sondern Georg Wilhelm Friedrich Hegel aufnehmen. Je nun – man darf weder den Kusaner noch Lullus für ihren Nachfolger verantwortlich machen. „Trinität“ ist natürlich das Stichwort für ein triadisches Denken. Anders als der Nolaner (Brunos Christentum ist zumindest als unkonventionell zu bezeichnen*) war Raimundus Lullus gläubiger Christ. Es erschien ihm ja in einer Vision Gott höchstpersönlich, um ihm seine Neue Kunst vorzustellen, ein mechanisch abarbeitbarer Fragenkatalog, der letzten Endes auf alles eine Antwort bieten sollte. (Lullus wird ihn selbstverständlich in der Neuen Logik ebenfalls einsetzen – er ist aber nicht mit der neuen Logik gleichzusetzen, sondern – wie immer – Voraussetzung einer Behandlung philosophischer Fragen. (Leibniz fand den Gedanken faszinierend und versuchte ihn auf seine Zeit zu adaptieren.)

Zurück zur Trinität: Lullus war fest davon überzeugt, dass die drei Personæ Gottes eine unumgängliche logische Notwendigkeit waren. Es konnte logisch nicht anders sein, als dass Gott in einer Dreifaltigkeit existierte. Nun war Lullus hartgesottener Realist. Alles, was denkbar war, musste auch existieren. Ergo existierte die Dreifaltigkeit für ihn. (Existenz bedeutet bei Llull nicht unbedingt ‘physische Existenz’; auch die aus der scholastischen Philosophie übernommenen Substanzen und Akzidenzien wiesen seiner Meinung nach eine reale Existenz auf – die auf Grund der Tatsache, dass sie mittels der Neuen Kunst erfragt und definiert werden konnten, als gesichert galt. Zusammengefasst: Was logisch war, war für Lullus auch real. Somit verwarf er auch den Ausweg, den andere Scholastiker, der bekannteste davon Thomas von Aquin, gefunden hatten, quasi eine weltliche (logische, reale) Wahrheit anzuerkennen und daneben eine göttliche (biblische), die davon abweichen konnte. Das hätte für ihn einerseits bedeutet, dass Gott eine irreale Gestalt wäre, oder zumindest sein könnte. Andererseits brauchte er diesen Trick auch gar nicht, weil Gott schon rein logisch gesehen Realität zukam.

So viel zu den Präliminarien, jetzt zur eigentlichen Neuen Logik. Denn weder ein Gottesbeweis, wie oben skizziert (der letztlich auf Anselm von Canterburys Beweis zurückgeht), noch die Definition der Trinität sind Bestandteil dieses Buchs.

Der erste Abschnitt (die Übersetzer haben ihm den Titel Über den Baum gegeben) enthält einen ersten Unterabschnitt, dessen einzelne Kapitel jeweils mit Über eingeführt werden, und dann in dieser Reihen folgende Aspekte behandeln: Das Sein, die Substanz, den Körper, das Sinnenwesen, den Menschen und die Frage. Hier sehen wir deutlich, dass, was Lullus, dem damaligen Sprachgebrauch folgend Logik nennt, heute als „Ontologie“ bezeichnet würde. Der Baum, der dahinter steht, ist die Visualisierung des Fragenkatalogs der Neuen Kunst, die nun auf Probleme der Ontologie angewendet wird. Es geht in diesem Stil weiter, im zweiten Unterabschnitt folgen die Prädikabilien (Gattung, Art, Differenz, eigentümliche Bestimmbarkeit, Akzidens), im dritten Unterabschnitt die Prädikamente (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Tätigkeit, Erleiden, Habitus, Lage, das Wann, das Wo). Der vierte Unterabschnitt bringt unter dem von den Übersetzern hinzugefügten Titel Über die 100 Formen ein Sammelsurium von Begriffen. Mit der Ausnahme von Unterabschnitt 4 werden alle Begriffe anhand des Baums mit folgenden Fragen abgesucht:

  • Ob?
  • Was?
  • Von (oder: aus) wem?
  • Warum?
  • Wie gross?
  • Wie beschaffen?
  • Wann?
  • Wo?
  • Auf welche Weise?
  • Mit wem?

(Es besteht, wie aufmerksame LeserInnen festgestellt haben werden, in diesem Fragenkatalog eine Überschneidung, aber nicht eine Übereinstimmung mit den weiter oben angeführten Prädikamenten.) Mit diesen Fragen glaubt Llull, jeden Begriff erschöpfend definieren zu können – was vor allem für den Philosophen oder den Naturforscher praktisch sei, weil dadurch rasche Fortschritte in den Wissenschaften möglich seien.

Erst der 5. Unterabschnitt (und da haben wir praktisch schon zwei Drittel des Textes hinter uns) widmet sich dem Syllogismus, also dem, was wir heute als „Logik“ betrachten würden. Auch den Syllogismus behandelt Llull an Hand seines Fragenkatalogs. Es ist leider der am wenigsten interessante Teil des Buchs. Er bringt nämlich, um ehrlich zu sein, nichts Neues hervor im Vergleich schon zu Aristoteles’ Definitionen. Ja, Llulls Art, den Syllogismus zu behandeln, wirkt eher verwirrend auf jeden, der Aristoteles schon im Original gelesen hat. Besonders schlimm wird es damit, wenn Llull über Paralogismen und Trugschlüsse referiert. Sie bestehen nämlich größtenteils darin, dass Llull verschiedene gleich lautende (oder gleich geschriebene!) Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung als zu Trugschlüssen führend nachweist (alternativ auch Wörter, die von der ursprünglichen und eigentlichen Verwendung übertragen worden sind auf andere Verwendungen, z.B. das Wort „Hund“, das auch ein Sternbild oder ein Fisch sein kann. Da er Latein schreibt, sind alle diese Wörter der lateinischen Sprache und der antiken oder mittelalterlichen Kultur entnommen. Hier zeigt sich bei Llull nur noch der bemühte und fleißige Laie, der vieles zusammenträgt, aber weniges richtig einordnen kann.

Dennoch, und sei es nur, um ein Gespür zu erhalten für die mittelalterliche Philosophie, eine empfehlenswerte Lektüre. (Und seinem späten Schülersschüler Hegel bei weitem vorzuziehen!)

Gelesen in folgender Ausgabe:

Raimundus Lullus: Die neue Logik. Logica Nova. Textkritisch herausgegeben von Charles Lohr. Übersetzt von Vittorio Hösle und Walpurga Büchel. Mit einer Einführung von Vittorio Hösle. Lateinisch – Deutsch. Hamburg: Meiner, 1985. Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft von 2002.


*) So, wie auch das des anderen berühmten Lullaners, der wie Lullus selber auch aus Mallorca stammte, Ramon Sibiuda, den bekanntlich Michel de Montaigne ins Französische übersetzte und für den er in seinen Essais, in II.12, eine so genannte Apologie verfasste, die de facto einer Verurteilung des vermutlichen Atheisten gleich zu setzen ist.

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