Eigentlich hatte sie sich das ein wenig anders vorgestellt. Eigentlich nämlich wollte sie sich mit ihren beiden Kindern für die nächsten zwei oder drei Jahre irgendwo im Süden Europas aufhalten. Dort, im milden Klima des Mittelmeers, sollte einerseits der Sohn von seinem Rheuma geheilt werden; andererseits erhoffte sie für sich selber Abstand vom Stress und vom Rummel der Pariser Salons. Sie würde am Morgen die Kinder unterrichten, am Nachmittag selber schreiben (war sie doch unter ihrem Pseudonym eine bekannte Schriftstellerin) und abends einen Spaziergang in der laufen Luft machen. Doch es kam ein wenig anders. Zum Glück für uns LeserInnen, denn sie würde so einen wunderhübsch ironisch-sarkastischen Bericht über ihren Aufenthalt auf Mallorca hinterlassen können.
Dass so ziemlich alles schief gelaufen ist, was schief laufen konnte, hat sie allerdings größtenteils sich selber zuzuschreiben. (Was sie natürlich in ihrem Reisebericht, und auch später in dem Abschnitt ihrer Autobiografie, in dem sie über den Aufenthalt auf Mallorca erzählt, gerade nicht tut!) Es ist eine Reihe von Fehlentscheidungen, die das Desaster in Gang setzte und dann auch im Gang hielt. Da ist schon ganz zu Beginn der Beschluss, noch vor der eigentlichen Abfahrt, dass nicht nur Sohn und Tochter mitgenommen wurden, sondern auch noch ihr Geliebter. Ebenfalls krank, wollte auch er Heilung oder zumindest Linderung suchen in der wärmeren südlichen Luft. Und schon waren es zwei Kranke statt des einen, auf die Rücksicht genommen werden musste. Sodann die Wahl des Ziels. Offenbar hatten ein paar Freunde (französische wie spanische) von der schönen Landschaft, dem milden Klima und den gastfreundlichen Einheimischen Mallorcas geschwärmt. Seit kurzem verkehrte auch eine Fähre mehr oder weniger regelmäßig zwischen Barcelona und Palma de Mallorca. Somit war das Reiseziel klar. Hinschreiben? Sich erkundigen? Fehlanzeige. Eine Unterkunft, dachte sie offenbar, würde man dann schon vor Ort finden. Das war ihr nächster Fehler. Mallorca war schon lange nicht mehr Drehscheibe des Handels zwischen Afrika und Europa. Die Insel war unterdessen zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken; kein Mensch besuchte sie mehr freiwillig. Das bedeutete auch: Es gab vor Ort kein einziges Gasthaus. Keines. Und natürlich erst recht kein Hotel. Um aber irgendwo privat unterzukommen, hätten unsere vier Reisenden Empfehlungsschreiben benötigt. Daran aber hatte niemand gedacht – noch ein Fehler. (Sie vermutete wohl, allein ihr (Künstler-)Name würde genügen, um ihr Tür und Tor zu öffnen. Aber man kannte sie nicht dort. Für die Mallorquiner war sie eine hochnäsige Fremde, die sich und ihre Tochter in Hosen kleidete, sowie in wilder Ehe mit einem jüngeren Mann lebte (und das noch vor den Augen ihrer minderjährigen Kinder!) und nicht einmal zur Kirche ging.) In einer Gesellschaft, die auch in der Stadt Palma noch vorwiegend rural dachte und lebte, in der Tauschhandel noch mindestens so wichtig war, wie Kauf und Verkauf mittels Geld (ein System, das man heute herablassend „eine Hand wäscht die andere“ nennt), forderte sie Unterkunft, ohne eine andere als eine pekuniäre Gegenleistung anbieten zu können. Das alte römische „Do ut des!“ schien der Pariserin fremd bzw. mit Geld eingelöst werden zu können. Dass die Mallorquiner sie für diese herablassende Haltung dadurch bestraften, dass sie für ihre Leistungen unverschämt viel Geld verlangten, war nur folgerichtig. Dass sie sich auf ihren Namen verließ und darauf, dass Mallorca genau so funktionierte wie Paris, war denn auch wohl ihr größter Fehler auf dieser Reise.
Mallorca war nur schon deswegen eine falsche Entscheidung, weil in Spanien – und Mallorca war unterdessen spanisch – seit 1833 der so genannte Carlistenkrieg ausgefochten wurde, ein Bürgerkrieg, in dem es – wie in so vielen Bürgerkriegen – natürlich nicht um die Bürger ging, sondern darum, wer denn nun im seit langem verarmten Spanien auf dem Thron sitzen dürfte. Dieser Krieg war an und für sich eine Kalamität, auch wenn Privatreisende zu jener Zeit im Großen und Ganzen in den Kriegen nach wie vor unbehelligt blieben. Aber natürlich saugte er die Ressourcen des Landes aus. Und wenn Spanien die Ressourcen fehlten, versuchte es, die fehlenden Gelder in Provinzen wie Mallorca einzuholen. Mit anderen Worten: Die Mallorquiner waren – sogar wenn sie nominell zum Adel zählten – mausarm. Selbst wenn sie gewollt hätten: Sie hätten den in ihren Augen nutzlosen Vergnügungsreisenden Nahrung und Unterkunft nicht viel billiger zur Verfügung stellen können, als sie es taten. Sofern sie überhaupt etwas hatten, das sie zur Verfügung stellen konnten.
Natürlich hatte die Städterin auch das Klima auf Mallorca völlig falsch eingeschätzt. Sie gibt in ihrem Bericht den Mallorquinern die Schuld, die erzählt hätten, es würde auf der Insel nie regnen. Aber natürlich regnete es, wie überall im Mittelmeer vor allem im Winter. Dies war eine weitere Fehlentscheidung: Die Patchwork-Familie setzte im November 1838 nach Mallorca über. Der Gedanke dahinter war wohl, dem kalten Pariser Winter zu entfliehen. Nicht einberechnet hatte man, dass Winter im Mittelmeer praktisch ununterbrochener Regen bedeutet und dass in den mediterranen Zonen für die paar kühleren Wochen keine anständige Heizung in den Wohnungen installiert ist. Auch wenn die Temperaturen offenbar kaum unter den zweistelligen positiven Celsius-Bereich sanken, froren die vier doch jämmerlich. (Ich habe das selber auf die harte Tour gelernt: Nie in meinem Leben, weder vorher, noch nachher, habe ich je so sehr und so lange gefroren wie in jenem Winter, den ich in Rio de Janeiro zugebracht habe – in einer Wohnung ohne Heizung. Die Temperaturen sanken nie unter 15° C; aber bei ständigem Regen und dem Meer gleich vor der Haustür beträgt die Luftfeuchtigkeit praktisch 100%. Der Ledergurt verschimmelt in der Schublade; der Wollpullover hat sich mit Wasser voll gesaugt, und bevor er dich wärmen kann, musst du zuerst ihn aufwärmen …)
Seltsamerweise hat dieses Klima dem Sohn tatsächlich geholfen. Obwohl er sich bei Wind und Wetter draußen herumtrieb und oft bis auf die Haut durchnässt nach Hause kam, verschwand sein Rheuma binnen weniger Wochen. Anders sah es mit dem Anderen aus (sie wird seinen Namen im ganzen Reisebericht nie nennen, erst in ihrer Autobiografie!). Selbst wenn er nicht nach draußen ging (und das tat er selten), setzte ihm die alles durchdringende klamme Kälte derart zu, dass sich sein Gesundheitszustand rapide verschlechterte. Er drohte tatsächlich auf Mallorca zu sterben. Seine Gesundheit verschlechterte sich gar derart, dass die Patchwork-Familie aufs Festland zurück kehrte, sobald die erste Fähre nach den Winterstürmen verkehrte: im Februar 1839. Aus den geplanten zwei bis drei Jahren waren knapp vier Monate geworden …
Die Autorin fühlte sich an allen Ecken und Enden von den Mallorquinern übers Ohr gehauen. Lebensmittel wurden viel zu teuer verkauft (und dann von der Dienerschaft unterm Zubereiten weggegessen!), Unterkunft zu teuer vermietet. Wenn man ihr auf dem Feld begegnete, wich man ihr aus. (Je nun: Was wusste man von ihr – sie konnte eine Spionin sein. Man war im Krieg.) Sie rächte sich durch eine bitterböse Darstellung in ihrem Reisebericht. Nicht nur die Schweine waren schmutzig, auch die Ziegen, die Häuser, die Leute. Die Bildung der Mallorquiner war inexistent. Unter sich freundlich, hilfsbereit und ehrlich – gegenüber Fremden misstrauisch, ja hasserfüllt. Die Landschaft allerdings, und das ist bezeichnend für unsere Autorin, die unbelebte Landschaft lobt sie über den grünen Klee und empfiehlt sie jedem Maler.
Wie schon gesagt: Die Autorin sucht die Schuld oder die Ursache für ihre Kalamitäten auf Mallorca nie bei sich. Sogar in Details ist das so: Dass sie bei den gelieferten Lebensmitteln das Öl ranzig und den Zucker verdreckt findet, mag (vor allem letzteres) noch dem Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Gewohnheiten und Sauberkeitsidealen geschuldet sein. Wenn sie jedoch den mallorquinischen Weißwein süß findet und sehr gerne trinkt, disqualifiziert sie den Roten als bitter. Aus einer rein persönlichen Geschmacksempfindung bastelt sie im Folgenden im Nu ein weiteres negatives Urteil über Mallorca als Ganzes und das dortige Essen im Speziellen. Last but not least: Noch in ihrer Autobiografie, wo sie ihren Geliebten dann beim Namen nennen wird, finden wir diesen Reflex bei ihr. Nach deren Darstellung war es so, dass sich der Musiker und Geliebte nachgerade aufdrängte, mitgenommen werden wollte. Und dass er, nachdem die paar schönen Spätherbsttage, die die Patchwork-Familie zu Beginn ihres Aufenthaltes auf der Insel noch erlebte, vorbei waren, unleidlich, wehleidig und grantig wurde – ja Zeichen von geistiger Verwirrung zeigte. Auch hier findet dieselbe Spaltung in der Einschätzung durch die Autorin statt, wie bei der Insel: Bei Mallorca ist es die Landschaft, die sie über alles lobt, sind es die Einwohner, die sie verteufelt. Bei ihrem (zum Zeitpunkt der Autobiografie bereits: ehemaligen) Geliebten ist es die Musik, die sie über alles erhebt (außer Mozart); den Charakter des Mannes aber macht sie sehr subtil schlecht.
Noch eine kleine Bemerkung zum Aufbau des Berichts. Er besteht aus drei Teilen, die im Großen und Ganzen auch den drei Aufenthaltsorten unserer Reisenden auf Mallorca entsprechen. Im Geist der Zeit ist sehr wenig Persönliches über die Reisenden und ihre Erlebnisse zu finden – nur der letzte Teil bringt davon etwas mehr. Vieles ist – wiederum im Geist der Zeit – blanke Information über mehr oder weniger sehenswerte Gebäude oder Orte. Mehr Reiseführer als Reisebericht – wenn nicht immer wieder satirische Passagen eingestreut wären. Einmal unternimmt die Autorin einen Ausflug in die Fiktion, wenn sie einen Dialog imaginiert zwischen einem Maler und einem Mönch auf den Überresten von unterirdischen Zellen der spanischen Inquisition. Nach dessen Lektüre wusste ich wieder, weshalb ich diese Autorin nach dem Genuss eines einzigen Romans nie wieder angerührt habe: Sie fabriziert platteste Schauerromantik im Stile von Melmoth the Wanderer. Nur, dass die Schilderung der Gefängnisse der Inquisition der einzig gute Teil von Maturins Roman war, während wir hier gerne darauf verzichtet hätten.
Die Autorin ist belesen, und fügt immer wieder Zitate ein – meist aus deutschen oder französischen Romantikern. Die großen Leitsterne der Literatur, Dante und Cervantes mit ihren Meisterwerken fehlen nicht. Aber auch Jean-Jacques Rousseau und Charles Fourier als politische Autoren werden herauf beschworen, und sogar der bekannteste Mallorquiner, Ramon Llull.
Wie bei allen Menschen mit einem gesunden Selbstbewusstsein müssen die Fehler und Irrtümer auf Seite der anderen liegen. Auf die Dauer wird man allerdings der andauernden Beschwerden über die Insulaner ein bisschen müde. Nachgerade tragisch wird ihre Dickköpfigkeit dann im Fall der Krankheit ihres Geliebten, die beide als das eine simple und leicht auszukurierende Kehlkopfentzündung betrachten – ungeachtet der korrekten Diagnose auf Schwindsucht (i.e. Tuberkulose) von einigen Ärzten. Ob die daraus resultierende Leichtsinnigkeit, mit der er mit nach Mallorca reiste, auf den Verlauf seiner Krankheit Einfluss gehabt hat, vermag ich natürlich nicht zu sagen. (Und dass, auch wenn die Diagnose stimmte, die für seine Erkrankung geforderte Therapie der Ärzte – u.a. mit dem damaligen Allheilmittel Aderlass – aus heutiger Sicht mindestens so schlimm anmutet wie eine lange Reise übers Meer, mildert ein hartes Urteil über die Ignoranz der beiden wieder ein wenig.)
Dennoch ein in seiner sarkastischen Ironie alles in allem erfrischend zu lesender Reisebericht.
Gelesen in der sehr empfehlenswerten Ausgabe
George Sand: Ein Winter auf Mallorca. Aus dem Französischen neu übersetzt und herausgegeben von Hermann Lindner. Mit zahlreichen zeitgenössischen Bildern [nur kleine Schwarz-Weiss-Reproduktionen leider – dafür stammen einige der Bilder von George Sands Sohn Maurice und sind noch vor Ort entstanden]. München: dtv, 2016 – Lizenz-Ausgabe der Büchergilde von 2020. [Die Ausgabe enthält auch den Teil der Autobiografie George Sands, Histoire de ma vie [Geschichte meines Lebens], der den Aufenthalt auf Mallorca schildert.]