Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie

Herausgeber Wilhelm Weischedel hat, anders als es der Titel des 5. Bands seiner Auswahl aus Kants Werken vermuten lässt, die Schriften zur Naturphilosopie (es sind nur deren zwei) vor die Kritik der Urteilskraft gesetzt. Während er also die Bände insgesamt nach Themen geordnet hat, geht er innerhalb eines einzelnen Bands dann chronologisch vor. Ich persönlich, wie auch schon gesagt, hätte es lieber gehabt, Kants Entwicklung von den Anfängen bis zum Ende chronologisch innerhalb einer Werkausgabe folgen zu können, aber sei’s drum. Immerhin ist Weischedels Auswahl kanonisch geworden, und sie gibt, was sehr zu begrüßen ist, bei jedem Text die Paginierung der jeweiligen Erstausgabe mit an, und dort, wo diese relevant sind, auch die Varianten und Paginierungen späterer Ausgaben.

Jedenfalls stehen nun in Band 5 – noch vor der Kritik der Urteilskraft die

Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft [1786]

Bereits im Vorwort hält Kant ganz klar fest, dass für ihn nur als Naturwissenschaft gilt, was mathematische Grundlagen aufweist. So ist die Physik eine Naturwissenschaft, die Chemie aber nicht, weil sie zu viele ‘Gesetze’ kennt, die sie nicht formal festhalten kann. Heute würde Kant die Chemie wohl im Kreis der Naturwissenschaften akzeptieren – es hat sich seit seiner Zeit doch einiges getan. Nach wie vor nicht akzeptieren würde er wohl hingegen die Psychologie, die er im Vorwort als zweites Beispiel einer Wissenschaft aufzählt, die nicht zu den eigentlichen Naturwissenschaften gezählt werden kann.

Im Großen und Ganzen enthält diese Abhandlung einen Aufriss der Physik, wie sie die Zeit Kants kannte, also der Newton’schen Festkörperphysik und Gravitationslehre. Kant bezweckte mit ihr, einen Nachweis zu erbringen, dass seine Kritik der reinen Vernunft (an deren zweiter Auflage er unterdessen ebenfalls werkelte) sich durchaus mit der aktuellen Wissenschaft in Übereinstimmung befand. Einiges formuliert Kant ein bisschen anders als Newton oder Kepler, so, wenn er ein abstoßendes Prinzip kennt, das bewirkt, dass Materie(n) sich nicht beliebig durchdringt / durchdringen oder Trägheit als das Prinzip der Ruhe eines Körpers betrachtet. Im Übrigen ist Kant eindeutig Anhänger der Theorie, dass die Welt aus Atomen aufgebaut ist, kleinsten, nicht weiter teilbaren Körpern im Sinne Demokrits. Daraus und aus der daraus folgenden mechanischen Festkörperphysik erklärt sich auch Kants Weigerung, die Chemie als Wissenschaft zu akzeptieren – ein Sich-Durchdringen oder Von-einander-Scheiden von Atomen konnten weder er noch die Physik seiner Zeit sich vorstellen. An der Chemie blieb noch weit ins 19. Jahrhundert hinein deswegen der Geruch des Handwerklich-Unwissenschaftlichen haften. Dass Kant zwar ein (wenn auch nicht vollständiges) Vakuum akzeptierte, passt in sein Bild der Materie als etwas sich Ausdehnendes, im eigentlichen Sinn des Wortes Raum-Einnehmendes – denn, um sich ausdehnen zu können, braucht die Materie einen Raum der leer von anderer Materie ist. (Der Äther gehört, nebenbei, natürlich auch zu Kants physikalischem Weltbild.)

Der Aufsatz ist unterteilt in die vier Abschnitte Phoronomie (Bewegungslehre, heute: Kinematik), Dynamik (Materie im Verhältnis zum Raum), Mechanik (Verhältnis von verschiedenen Materien (i.e. Körpern) untereinander) und Phänomenologie (Materie als möglicher Gegenstand der Erfahrung – mit dem (leeren) Raum als eine Art ‘Ding an sich’). Heute allenfalls noch wissenschaftsgeschichtlich interessant – als Versuch, Festkörperphysik zum Maßstab einer Welterkenntnis an sich zu erklären. Als Darstellung ‘ewiger’ Grundprinzipien der Physik, was Kant nebenbei ebenfalls liefern wollte, ist dieses Werk natürlich seit Einstein überholt.

Ebenfalls noch vor der Kritik der Urteilskraft steht ein kurzer, metaphilosophischer Aufsatz:

Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie [1788]

Dieser Aufsatz erschien in zwei Teilen in Wielands Teutschem Merkur, als Antwort auf einen Aufsatz Georg Forsters, in dem dieser Kants Rassenbegriff kritisierte. Forster war kein Philosoph und hat auf die Replik Kants dann nicht mehr geantwortet.

Heute liest man Kants Aufsatz natürlich unter dem Blickwinkel der Frage: War Kant Rassist? Die Antwort ist komplex, aber auf Grund des vorliegenen Aufsatzes lässt sich zumindest konstatieren, dass Kant am Begriff der „Rasse“ für den Menschen festhielt. Ja, dass er Unterschiede zwischen den menschlichen Rassen für gegeben hielt, die jenseits eines Unterschiedes von Hautfarbe oder auch Knochenbau liegen, sondern ganz eindeutig den Charakter und die Lebensweise von Menschen anderer Hautfarbe (vor allem von Negern oder Zigeunern – wie Kant sie nannte, noch ohne damit ein explizites Schimpfwort zu verbinden, aber eben durchaus schon pejorativ konnotiert), die sich darin ausdrückte, dass diese Rassen zum Beispiel eben arbeitsscheu, um nicht zu sagen: faul, waren.

Kant war der Meinung, dass sich die menschlichen Rassen wissenschaftlich festhalten liessen, anhand einer teleologisch-philosophischen Rückverfolgung der Entwicklung der Menschheit. Die beiden, Kant und Forster, redeten dabei aneinander vorbei. Forster war der Meinung, in dem Umstand, dass offenbar Gefühle wie Liebe oder Hass, Freude oder Zorn, bei Menschen aller Hautfarben gefunden werden konnten, bewies, dass der Begriff „Rasse“ eine Trennung zu suggerieren suchte, die in Tat und Wahrheit nicht aufzufinden war. Kant in seiner Königsberger Ecke sah – durch die Augen Dritter! – Unterschiede, wo Forster Gemeinsamkeiten sah.

Wieland, ausgewogen wie immer, gab beiden Seiten Raum in seiner Zeitschrift.

Nun aber zur Kritik der Urteilskraft, d.h. zunächst zur

Erste[n] Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft [1790]

Hier nun wird auseinander gesetzt, was Kant im Aufsatz gegen Georg Forster implizit mit dem Wort Teleologie eigentlich meint: Eine Technik zur Klassifizierung der Natur (d.i., der Welt der Erscheinungen, wie sie die grundlegende Kritik der reinen Vernunft festgehalten hat; eine Klassifizierung, die, weil zusammenfassend, immer auch teleologisch, also zielgerichtet ist, da die Urteilskraft in die Natur die Kunst der Zusammenfassung und Gestaltung einzeichnet. Sie tut das, nebenbei, nicht quasi gegen den Willen der Natur bzw. der reinen Vernunft – diese stellen der Urteilskraft das Rohmaterial in einer Art und Weise zur Verfügung, dass eine teleologische Einteilung der Dinge der Welt (z.B. die Klassifizierungen Linnés) möglich, vorausgesetzt, gefordert sind. (Diesen Teil der Rasse als Klassifizierung der Kritik der Urteilskraft, auf die Kant Wert legt, hat Georg Forster nicht nachzuvollziehen vermocht. Er sah vor allem die – durch seine Erfahrungen in der Südsee und anderswo – negierte Ab- und Vorverurteilung anderer Menschen mit anderer Hautfarbe.)

Aber eigentlich geht es Kant ja in seiner Einleitung nicht um Forster, nicht um den Begriff einer Rasse, sondern darum, einen Abriss dessen zu liefern, was er im Folgenden, in der Kritik der Urteilskraft, bringen will. Nämlich eine Darstellung des Erkenntnisvermögens insofern es teleologisch wirkt, sprich: einen Zweck in den „Werken“ der Natur, und dann sekundär des Menschen erblickt. Das erste ist gemäss Kant eigentliche Teleologie, das zweite, wenn es mit Gefühlen von Lust oder Unlust verbunden ist, Ästhetik. Hier grenzt er sich noch ab von einer ‘praktischen’ Ästhetik, d.h., einer Psychologie des Gefallens, wie es seiner Meinung nach im Werk von Edmund Burke zu finden ist.

Diese Einleitung wurde schlussendlich von Kant verworfen – verständlich, sieht man doch noch allzu sehr, wie er damit ringt, die stimmende Fassung seiner Gedanken zu finden.

Somit gehen wir nun über zur eigentlichen

Kritik der Urteilskraft [1790]

der letzten seiner drei großen Kritiken. Kant war ja offenbar der Meinung, dass – sozusagen als Verbindungsstück – noch eine dritte Kritik nötig sei, die die Theorie (die Kritik der reinen Vernunft) mit der Praxis (oder auch der Freiheit – also der Kritik der praktischen Vernunft) zusammenfüge.

Grundpfeiler seiner Kritik der Urteilskraft ist dabei der Begriff der Teleologie. Zweckmäßigkeit nicht nur in der Natur, sondern auch in der menschlichen Tätigkeit. Wenn ein Objekt in mir Lust oder Unlust erzeugt, ist das ein Phänomen der Zweckmäßigkeit – genauer der Ästhetik. Dabei spielt es primär keine Rolle, ob das Objekt von Menschen erschaffen oder natürlich gebildet sei. Dieser Unterschied wird erst relevant, wenn es darum geht, ob die in mir erzeugte Lust Schönheit heißt, oder Erhabenheit. Kant kritisiert zwar bei Edmund Burke, dass dessen Ästhetik eine rein psychologische sei, versucht auch, allgemein gültige Kriterien von Schönheit oder Erhabenheit auszumachen – letzten Endes aber kommt er nicht weiter als der Engländer vor ihm. Im theoretischen Teil fällt das kaum auf; sobald Kant aber dazu kommt, Beispiele geben zu wollen, blickt der Provinzmensch der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch alles, was er als schön bezeichnet. So wenig in der philosophischen Theorie Reisen und Weltläufigkeit von Nöten sind, so sehr fehlen sie bei der ästhetischen Praxis.

Selbst in der Theorie aber kann Kant in seiner Ästhetik nicht zu 100% überzeugen. Er kennt zwei Arten von ästhetischen Urteilen – welche, die nur meinen persönlichen Geschmack ausdrücken, und welche, die (zumindest implizit) Allgemeingültigkeit verlangen. Das heißt, dass – vereinfacht ausgedrückt – mein Nachbar dasselbe für schön zu finden hat wie ich. Während also in der Erkenntnistheorie (der Kritik der reinen Vernunft) das Mit-Subjekt keine Rolle spielt, und es in der Ethik (der Kritik der praktischen Vernunft) nur als theoretische Rechenfigur des anderen fungiert, dem ich mit meinem Verhalten als Vorbild dienen soll: Hier findet sich plötzlich und ohne theoretische Rechtfertigung ein mir gleich gestellter Anderer. Schon dies irritiert den Leser. Wenn es dann die Frage auftaucht, wie diese Übereinstimmung der ästhetischen Urteile stattzufinden hat, ob sie im Menschen von Natur aus angelegt ist, oder ob sie diskursiv erzielt werden muss, folgt die nächste Irritation: Kant schweigt sich darüber nämlich einfach aus.

Interessanter ist allenfalls die Diskussion des Themas ‘Genie’. Für Kant ist das Genie nicht der regellose Künstler, als den man ihn im Sturm und Drang oft sah (bzw. als dessen Auffassung die – zugegeben oft rhapsodischen – Äußerungen der jungen Stürmer und Dränger gern und auch von Kant missverstanden wurden. Auch für Kant steht zwar das Genie außerhalb seiner Kunst – nämlich seiner Kunst im bisherigen Rahmen. Das Genie steht aber nicht außerhalb der Regeln – es ist vielmehr das Genie, das (neue) Regeln erst formt. (Manierismus ist für Kant explizit nicht Ausdruck von Genie.)

Die Kritik der reinen Vernunft ist von den drei Kritiken Kants die am wenigsten als Ganzes rezipierte. Ich wage zu behaupten, dass sie ine im Großen und Ganzen eher überflüssige Arbeit Kants darstellt. Daran ändert auch nicht viel, dass der zweite – in der Rezeption meist gänzlich übergangene – Teil der Kritik der Urteilskraft der Teleologie in der Natur gewidmet ist. Hier diskutiert Kant die Tendenz des Menschen, Phänomenen der Natur teleologische Ziele unterzuschieben – sprich: sie als zweckmäßig zu betrachten. In der toten Natur ist man sich der übertragenen Bedeutung des Zwecks (eines Berges, z.B.) noch bewusst. In der lebenden aber werden immer wieder Zwecke postuliert, die zwar als eine Art erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Hilfskonstruktionen sinnvoll sein können, denen aber keine ‘Realität’ (auch kein Ding an sich) entsprechen. Die Linse im menschlichen Auge z.B. hat den Zweck, dass …

Denken in Zweckmäßigkeiten führt für Kant von selber zu einer Bildung von Entwicklungsstufen in der lebenden Natur. (Eine Bildung natürlich nicht in der ‘Realität’, sondern nur in der ‘Idealität’ des menschlichen teleologischen Denkens.) Sogar eine Art Evolutionstheorie (Kant benutzt den Ausdruck!) hält der Philosoph für möglich. Allerdings sieht er die Evolution quasi von oben nach unten – vom Menschen hinab zu den einfacheren Tieren, ja den Moosen und Pflanzen.

Den Schluss der Kritik der Urteilskraft macht ein nochmaliger Ausflug Kants in die theologische Teleologie. Es geht um die alte Frage, ob in der Natur ein ultimativer Schöpfer angenommen werden könne, der die aufgefundene Zweckmäßigkeit überhaupt erst initiierte und der dann „Gott“ heißen könnte. Kant weist darauf hin, dass der Mensch hier sozusagen hinten wieder heraus zieht, was er gerade selber vorne hinein gesteckt hat: Die Zweckmäßigkeit der Natur ist vom Menschen in diese hinein gesehen worden. Ob „die Natur“ irgendwie oder -wo zweckmäßig vorgeht, können wir gar nicht entscheiden. Der Zweck ist eine Form unserer Urteilskraft, nicht der Natur. Somit verwirft Kant zum Schluss der Kritik der Urteilskraft noch einmal explizit alle Gottesbeweise der Scholastik; er verwirft den Spinozismus, den Theismus und die Physikotheologie. Einzig in der Moral, gibt Kant zu, ist es zielführend, ein höheres Wesen anzunehmen, das den Menschen moralischen Halt und Führung geben kann. Kant hält den Menschen offenbar für nicht in der Lage, aus eigenem Antrieb moralisch-sittlich gut zu handeln. (Aber dann bringt er auch in der Ästhetik als Beispiel von etwas Erhebendem – Menschen in Uniform. Und zwar als etwas Allgemeingültiges, nicht als persönliches Urteil.) Kant konnte letztlich seine Zeit und seinen Ort nicht verleugnen, und das ist der schwache Punkt seiner Ästhetik – seiner ganzen Kritik der Urteilskraft. Nämlich, weil sie – wie die beiden anderen Kritiken auch – mehr sein will als zeit- und ortsgebunden.

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