Gabriel García Márquez: Erinnerung an meine traurigen Huren

2004 erschien dieser kurze Roman des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers García Márquez. Er erregte einen mittleren Skandal, und viele Leser bzw. Leserinnen sollen ihn entrüstet oder voller Abscheu beiseite gelegt haben – nach den ersten paar Seiten. Altmännerphantasien auszumalen, warf man dem Autor vor.

Denn das Thema dieser knapp 150, grosszügig bedruckten Seiten ist die Liebe zwischen einer jungen Frau, fast noch einem Kind, und einem 90 Jahre alten Greis, dem Ich-Erzähler. Dieser beschliesst, zur Feier seines Neunzigsten ein Bordell aufzusuchen. Er will mit einer echten Jungfrau schlafen. Die Bordellwirtin, fast so alt wie er, kann ihm seinen Wunsch erfüllen und eine echte Jungfrau besorgen. Der Erzähler wird in dieser Nacht nicht mit dem Mädchen schlafen. Es entspinnt sich eine Liebesgeschichte, mit allem Auf und Ab, das dazu gehört.

Derart kurz nacherzählt, wirkt die Geschichte tatsächlich wie eine zu Papier gebrachte schmutzige Altmännerphantasie. (Und sie ist es natürlich – – – auch.) Doch García Márquez wäre nicht García Márquez, wenn es dabei bliebe. In diese unmögliche Liebesgeschichte verflicht der Autor Reflexionen über das Altern, über die Erinnerung, über die Sexualität, über das Schreiben, über das Sterben. Der Erzähler schreibt noch in seinem hohen Alter ein tägliche Kolumne in der lokalen Zeitung, und so wird seine Liebesgeschichte – wenn auch nicht im Detail – publik, und der Neunzigjähre reflektiert sehr genau über seine Situation als Liebender, Autor und alter Mann. Der Roman ist damit auch eine Parabel über die Inspiration des Schriftstellers, v.a. natürlich des Schriftstellers García Márquez.

Das Ganze ist in die typische südamerikanische Atmosphäre getaucht, wie wir sie auch aus García Márquez‘ grossen Romanen kennen, und die als „magischer Realismus“ bekannt wurde. Es ist letzten Endes eine Lobeshymne an und über die Liebe – völlig unabhängig vom Alter der Beteiligten. Und eine Hymne an das Leben:

„Ich ging hinaus in die strahlende Straße, und zum ersten Mal sah ich mich selbst am fernen Horizont meines ersten Jahrhunderts. Mein Haus, still und geordnet um Viertel nach sechs, begann sich an den Farben eines glücklichen Morgenrots zu erfreuen. Damiana sang aus voller Kehle in der Küche, und die gesundete Katze ringelte ihren Schwanz um meine Knöchel und begleitete mich bis zu meinem Schreibtisch. Ich ordnete gerade meine vergilbten Blätter, das Tintenfass, den Gänsekiel, als die Sonne zwischen den Mandelbäumen des Parks explodierte und der Flussdampfer mit der Post, wegen der Dürre eine Woche verspätet, tutend in den Hafenkanal einfuhr. Das war endlich das wirkliche Leben, mein Herz war gerettet und dazu verdammt, an wahrer Liebe zu sterben, in glücklicher Agonie, an irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag.“

So endet der Roman, vom Jetzt in eine Zukunft, in eine Vollendung überführend. Ihn auf eine Altmännerphantasie zu reduzieren, ist, wie wenn ich Goethes Faust als Phantasie eines notgeilen Studenten abtun würde. ’scuse my French.

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