Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) ist eine Leitfigur der frühen Aufklärung, so etwas wie einer der ersten modernen Philosophen. Gleichzeitig war er einer der letzten Universalgelehrten in dem Sinne, wie ihn die Renaissance hervorbrachte. Im Gegensatz zum oft auch als Universalgelehrten angesprochenen Goethe verachtete Leibniz die Mathematik nicht nur nicht, er war einer der führenden Mathematiker seiner Zeit. Selbst der vielleicht wirklich letzte naturwissenschaftlich orientierte Universalgelehrte, Alexander von Humboldt, hat sich nicht in übertriebenem Mass mit der Mathematik abgegeben, während Leibniz bekanntlich praktisch zeitgleich mit (und unabhängig von) Newton die Infinitesimalrechnung entwickelt hat. Das Label „moderner Philosoph“ verdient Leibniz meiner Meinung nach dadurch, dass er einerseits scharf zwischen Theologen und Philosophen unterscheidet (ohne dem einen oder andern Fach Priorität einzuräumen), andererseits seine Theorien in Auseinandersetzung nicht mehr mit den alten Griechen oder den verstaubten Scholastikern des Mittelalters entwickelt, sondern im Diskurs mit seinen unmittelbaren Vorgängern bzw. Zeitgenossen. Er setzt sich mit Descartes und den Cartesianern auseinander, mit Pascal (einem andern grossen Mathematiker!), mit Arnaud, mit Bayle. Mit den meisten davon steht er auch ausserhalb des publizistischen Diskurses in persönlichem und/oder brieflichem Kontakt . Hingegen lässt er die mittelalterlichen Scholastiker auch dann gänzlich beiseite, wenn er sich mit der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes, auseinander setzt. (Die zeitgenössischen im Geist der Scholastik erzogenen Denker bezieht er freilich mit ein.) Auch die bis vor kurzem noch so beliebten Aristoteles und Platon finden kaum Platz bei ihm. An ihre Stelle treten die ersten modernen Naturwissenschafter, v.a. die holländischen Anatomen, die bei so vielen naturwissenschaftlichen Entdeckungen (z.B. des Blutkreislaufs) führend waren.
Leibniz‘ Werk gilt als schwer zugänglich. Das muss schon zu Leibniz Lebzeiten so gewesen sein; jedenfalls fühlte er sich verpflichtet, 1714 für eine Handvoll Freunde und Gönner einen leicht verständlichen „Abstract“ (wie wir heute sagen würden) zu verfassen. Das ist die Monadologie – ursprünglich als Anhang für einen Brief an einen Freund in Wien verfasst. 90 knapp gehaltene Thesen sollen sein Konzept erläutern.
Er beginnt mit der Monade – einer einfachen Substanz ohne Teile und unteilbar, die in zusammengesetzte Substanzen eingeht. Monaden können sich auch nicht auflösen, was dann bereits Konsequenzen auf die Unsterblichkeit der Seele hat. Jede Monade ist von der andern verschieden. Dies beruht auf einem inneren Prinzip. (Weil: Von aussen kann nichts in die Monade gelangen. Sie hat, wie die berühmte Formulierung lautet, „keine Fenster“.) [Pate zur Monade stand wohl die Entdeckung der Protozoen und der Samentierchen durch die holländischen Anatomen. Diese hatten entdeckt, dass auch Würmer nicht einfach aus dem Nichts bzw. Schlamm entstanden, und fanden so zur Theorie, dass sozusagen im Samentierchen des Vaters nicht nur der Sohn, sondern auch der Enkel, Urenkel usw. ad infinitum enthalten sei. Leibniz entwickelte also seine Monaden-Lehre nicht einfach aus dem hohlen Bauch, sondern in Übereinstimmung mit den Forschungsresultaten der führenden Naturwissenschafter seiner Zeit. Einer Anschauung, die ja – u.a. dank Buffon – bis weit ins 19. Jahrhundert gültig war. Natürlich spielen auch Descartes‘ tierische Automaten hinein.]
Die Vernunft nun wiederum erwächst aus der Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten. [Leibniz nimm Gott als gegeben an; er versucht nicht, ihn zu beweisen!] Die Vernunft ist zu unterscheiden von der Erinnerung. Letztere haben auch die Tiere, und sie ist es, die den Hund den Stock fürchten lässt. Die Erinnerung generiert die Empirie. Weil ich mich erinnere, dass noch jeden Morgen die Sonne aufgegangen ist, schliesse ich empirisch darauf, dass auch morgen die Sonne aufgehen wird. „Nur der Astronom urteilt darüber auf Grund der Vernunft.“ (§ 28)
Da Körper und Geist zwei von einander unabhängige Monaden sind, ist kein gegenseitiger Einfluss möglich. Es gibt nur „einen idealen Einfluß einer Monade auf die andere, der seine Wirkung nur kraft der Einmischung Gottes ausüben kann“. (§ 51) [Damit vermeidet Leibniz Descartes‘ Aporie, die eine völlige Getrenntheit der beiden Entitäten postuliert und gleichzeitig nicht umhin kann, eine gegenseitige Abhängigkeit festzustellen. Und um die lächerliche Vorstellung zu vermeiden, dass Gott praktisch im Sekundentakt und immer wieder einschreiten muss, um die Reaktion des Körpers an die Aktion der Seele anzupassen oder umgekehrt, postuliert Leibniz die prästabilierte Harmonie, die von Gott im voraus festgesetzte unbedingte Harmonie der beiden Entitäten. In einem andern Werk vergleicht Leibniz das mit zwei absolut gleich gehenden Uhren, die ein geschickter Uhrmacher verfertigt hat.]
„Da es nun in den Ideen Gottes eine Unendlichkeit möglicher Universen gibt und da nur eines allein von ihnen existieren kann, so muß es einen zureichenden Grund für die Wahl Gottes geben, der ihn eher zu dem einen als zu dem andern bestimmt.“ (§ 53) [Das ist die berühmte „beste aller möglichen Welten„, ein Konzept das nicht ganz so naiv ist, wie es Voltaires Candide haben wollte. Eine Welt, in der alles gut wäre und nur Gutes und nur Gute existieren, kann Gott nicht schaffen, weil er dann lauter seinesgleichen schaffen würde. Gottes Vernunft aber sagt ihm, dass das keinen Sinn macht. Und so gilt:] „Und dieser Grund kann nur in der Angemessenheit oder in den Vollkommenheitsgraden zu finden sein, die diese Welten enthalten; denn jede mögliche Welt hat ein Recht, nach dem Maße der Vollkommenheit, die sie in sich schließt, zur Existenz zu streben.“ (§ 54) Deshalb also wählt Gott dann die beste aller möglichen Welten. [Leibniz operiert da im Grunde genommen mit der Idee, dass Gott für den Menschen letztlich unergründlich ist und wir nicht wissen, was denn nun – quasi ‚in the long run‘ – für uns das Beste ist. Eine klassische Idee auch der Pädagogik.]
Leibniz verfasste die Monadologie, wie die meisten seiner Schriften, auch die zur Veröffentlichung gedachten, auf Französisch. Es existieren diverse Übersetzungen (bei Reclam, Meiner etc.). Ich selber habe gelesen und zitiert nach: Gottfried Wilhelm Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik. (= Ders.: Philosophische Schriften. Band 1) Herausgegeben und übersetzt von Hans Heinz Holz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2. Auflage 1985. (Diese 7-bändige, als Studienausgabe angelegte Werkauswahl ist nur noch antiquarisch erhältlich. Teile davon – so auch dieser Band 1 – sind bei Suhrkamp bzw. Insel auch neu greifbar.)
Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass man seine Texte nicht ganz umsonst schreibt. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hat in der Zwischenzeit die 7-bändige Studienausgabe wieder in ihr Repertoire aufgenommen.
(Stand vom 02.10.2013)