Schon einige Jahre vor seinem Tod wurde aus der Entourage des Literaturnobelpreisträgers von 1982, Gabriel García Márquez, mitgeteilt, dass es keine neuen Romane des kolumbianischen Autors mehr geben würde. Ich erinnere mich nicht, ob damals schon der Grund dafür – Altersdemenz – genannt wurde. Nun ist aus dem Nachlass dieser Roman (besser wohl: diese Erzählung) erschienen. Was genau geschehen ist, wissen wir natürlich nicht; wir haben nur die Version der Geschichte, die die beiden Söhne des Autors im Vorwort zur vorliegenden Veröffentlichung geliefert haben.
Dieser folgend, hat Gabriel García Márquez noch lange an einem neuen Roman gearbeitet, bis er dann selber feststellen musste, dass ihm seine zunehmende Demenz nicht mehr erlaubte, so daran zu feilen, wie er es gern getan hätte. In seiner Frustration verfügte er, dass alle Manuskripte (heute wohl eher Typoskripte, Dateien, e-Mails) dazu zerstört werden sollten. Das ist offenbar nicht geschehen, im Gegenteil: Jetzt, zehn Jahre nach dem Tod des Autors, haben seine Söhne die vorhandenen Manuskripte wieder hervorgesucht, gelesen und zusammen mit dem Cheflektor des Originalverlags besprochen. Man habe, so die Söhne im Vorwort, gefunden, dass der Roman ja beinahe beendet sei und durchaus noch für eine Veröffentlichung bereit. (Gleichzeitig geben sie aber zu, dass die vorliegende Version aus verschiedenen Bearbeitungen zusammen gesetzt wurde …)
Die Frage, ob das Vorgehen der Söhne moralisch-ethisch gerechtfertigt war, will ich hier nicht beurteilen. Die Reaktionen aus dem ehemaligen Freundeskreis des Autors waren offenbar durchaus gemischt. Die Frage, ob die Erzählung tatsächlich literarisch taugt, aber ist eine andere.
Da sind die positiven Aspekte der Neuerscheinung. Zum ersten Mal hat Gabriel García Márquez eine Erzählung verfasst, in der die alleinige Hauptfigur eine Frau ist. Die Kritik, dass diese Frau dann doch aus männlicher Sicht geschildert wird, ist gerechtfertigt; es mag aber auch sein, dass Gabriel García Márquez damit zeigen wollte, wie diese Frau (die zu Beginn der Erzählung 46 Jahre alt ist) in ihrem Leben derart mit dem männlichen Gesichtspunkt der Frau imprägniert worden ist, dass sie nicht daraus heraus findet, es nicht einmal bemerkt. Immerhin ist sie als Jungfrau in die Ehe gegangen; auch wenn diese nun, wie sie selber findet, durchaus glücklich war und auch sexuell befriedigend für beide.
Der Kern der Geschichte besteht darin, dass diese Frau, Ana Magdalena Bach (ja, sie ist Musikerin, ja ihr Mann ist ebenfalls Musiker, ja, ihre Tochter ist Musikerin, ja ihr Sohn ist Musiker – und zu allem hinzu spielt Debussy eine wichtige Rolle in dem, was sie im Buch erlebt) – Ana Magdalena Bach also besucht einmal jährlich, im August, eine Insel, auf der ihre Mutter auf deren Wunsch beigesetzt worden ist. Seltsamerweise legt der Autor auch Wert darauf, festzuhalten, dass sie nur mit phantastischer Literatur im Gepäck reist: Stokers Dracula, Bradbury, Borges. Ob das einfach einen realistischen Farbtupfer setzen sollte, oder ob es eine Rolle gespielt hätte, wenn García Márquez das Buch wirklich zu Ende hätte schreiben können – zum Beispiel gerade im Zusammenhang mit dem, was nun den Schluss darstellt – wir können nur rätseln.
Jedenfalls geschieht es im Jahr, in dem die Erzählung einsetzt, zum ersten Mal, dass sich Ana Magdalena Bach in ihrem Hotel von einem Fremden verführen lässt. Diesen One-Night-Stand wiederholt sie nun jährlich bei ihren Besuchen auf der Insel – jedes Mal mit einem anderen Mann, in einem anderen Hotel. Die Auswirkungen auf ihre Ehe werden nur angedeutet, scheinen aber minimal zu sein. Das Geschichte endet damit, dass Ana Magdalena Bach nun zu wissen meint, was der Grund war dafür, dass ihre Mutter auf dieser Insel beerdigt sein wollte – eine Liebschaft. Zusammen mit dem Friedhofswärter exhumiert sie die Leiche der Mutter, schleppt sie in einem Leichensack nach Hause und wirft diesen ihrem Mann vor die Füsse:
»Erschrick nicht«, sagte sie. »Sie versteht es. Mehr noch, ich glaube, sie ist die Einzige, die es bereits verstanden hatte, als sie beschloss, auf der Insel begraben zu werden.« – ENDE
Dieser seltsame Schluss mag vom Autor beabsichtigt sein, er mag aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass er seine Geschichte nicht so zu Ende schreiben konnte, wie er sich das einmal gedacht hatte. Es ist jedenfalls trotz oder wegen seiner Rätselhaftigkeit ein durchaus mögliches Ende.
Im Übrigen kann man festhalten, dass es Gabriel García Márquez auch in Wir sehen und im August gelungen ist, die für seine späten Erzählungen typische Stimmung herzustellen. In vielem erinnert die vorliegende Erzählung an des Autors letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten, Erinnerung an meine traurigen Huren. Beide Male geht es um das Problem einer Erfüllung in Liebe und in Sexualität des alternden Menschen. Und die Atmosphäre einer tropischen oder subtropischen Umgebung herzustellen, gelingt Gabriel García Márquez in beiden Fällen. Aber ja: Es gibt, neben ausgezeichneten Passagen leider auch immer wieder Momente, in denen die Erzählweise des Autors eher mechanisch klingt – so, als habe er hier nur gerade mal skizziert, wie er von einem Teil zum übernächsten gelangen wolle, ohne den Übergang schon fertig zu haben. Aber diese Unfertigkeit war schon ein Problem der Traurigen Huren.
Muss man nun diese Erzählung gelesen haben? Natürlich ist für Leute, die alles von Gabriel García Márquez gelesen haben wollen, auch Wir sehen uns im August ‚unverzichtbar‘. Jene, die sich die Erinnerung an einen großartigen Erzähler nicht zerstören lassen wollen, müssten schon ungefähr nach Zwölf Geschichten aus der Fremde von 1992 mit der Lektüre des Kolumbianers aufhören. Die vorliegende Erzählung (oder ist es doch ein Roman?) ist durchaus über dem literarischen Durchschnitt von 2023 anzusiedeln – ein Meisterwerk ist sie nicht.
Gabriel García Márquez: Wir sehen uns im August. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2024.