Vergangene Woche weilte ich für ein paar Tage im oberschwäbischen Donauland. Da durfte denn auch ein Besuch in Biberach an der Riß nicht fehlen, wo Christoph Martin Wieland (1733-1813) seine Kindheit verbrachte und auch seine erste „feste Anstellung“ als Kanzleiverwalter inne hatte. Biberach, das auch das Modell zu Abdera bildete. Abdera, das schon in der griechischen Antike keinen guten Ruf genoss, obwohl aus dieser griechischen Stadt bekanntlich der Philosoph Demokrit stammte, den auch Wieland in seinem Roman Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte von Herrn Hofrath Wieland (erschienen in den Jahren 1774–1780) als Gegenpol zu den Schildbürgern von Abdera verwendete. Wieland amtete in Biberach von 1760 bis 1769, um dann, nach einem kurzen Zwischenspiel als Professor der Philosophie in Erfurt, als Prinzenerzieher nach Weimar berufen zu werden. Er war somit der erste der sog. „Klassiker“, der sich in Weimar einfand. Er ist auch bei weitem der älteste, am wenigsten beachtete. Das ist schade, mag aber zum Teil daran liegen, dass sein Werk noch bedeutend mehr als das Goethes zwischen Rokoko, Empfindsamkeit, erotischer Literatur und Aufklärung eingeklemmt ist.
Dabei sind seine Verdienste um die deutsche Literatur mindestens so gross wie die der andern drei Klassiker. So war Wieland z.B. der erste, der Shakespeare ins Deutsche übertragen hat, und die erste Aufführung eines Shakespeare-Stückes auf Deutsch geht ebenfalls auf seine Initiative zurück. Und dies fand alles noch zu seiner Biberacher Zeit statt. Der Kanzleiverwalter Wieland arbeitete offenbar sehr speditiv und hatte so seine Nachmittage zur freien Verfügung. Da seine Wohnung unmittelbar neben der Kanzlei gelegen war, flüchtete Wieland für die Stunden mit seiner Muse aufs Land, in ein Gartenhäuschen, dessen oberen Stock ihm ein Freund zur Verfügung stellte. Nachdem es vor rund 100 Jahren beinahe abgerissen worden wäre, wovor es ein paar literaturliebende Biberacher Bürger bewahrt haben, die es in ein Museum verwandelten, gehört das Häuschen heute einer speziell eingerichteten Stiftung und ist dem Publikum geöffnet.
Leider war es an dem Tag, als ich Biberach besuchte, viel zu heiss, um das Städtchen selber wirklich genussvoll besichtigen zu können; dazu war Markttag, was die Einheimischen mehr erfreuen mag als den Touristen, der von den Marktständen und der dort durchfliessenden Menschenmenge an den Strassenrand oder mitten ins Gemüse gedrückt wird. Somit fielen auch die Wieland-Gedenkstätten im Stadtzentrum dahin. Ich entschied mich fürs sog. „Wieland-Museum“ – eben das Gartenhäuschen, in dem Wieland zwar nicht gelebt hat (er wohnte, ass und schlief immer in seiner Stadtwohnung), aber in dem er gedichtet hatte.
Biberach hat unterdessen auch diesen Platz „auf dem Land“ geschluckt; gleich neben dem Gartenhäuschen befindet sich die städtische Verwaltung und ein grosses Parkhaus, von dem aus man in einer halben Minute vor dem Museum steht. (Übrigens mit einer grosszügig bemessenen Karenzfrist, die ausreicht, dass man das Museum besuchen kann, ohne Parkgebühren zahlen zu müssen. Dies für die Schweizer und die Schwaben unter uns.) Die ursprünglich vorhandenen Anlagen, Obstanbau und Gemüsebeete wohl, sind längst verschwunden. Die Umgebung wurde schlicht und einfach gehalten: Rasen, Steinplatten und ein mäanderförmiges Kiesbett, das den ursprünglichen Lauf der Riß symbolisieren soll. Man hat das Flüsschen längst umgeleitet, es lief aber früher in der Nähe des Gartenhäuschens vorbei. Dazu Apfelbäume – die Wieland-Äpfel. Dann zwei kleine, orange gestrichene Häuschen.
Das grössere ist das Gartenhäuschen, in dem sich auch Wieland aufgehalten hat. Unten rechts die Kasse, links ein Raum, in dem auf einer grosszügig gehaltenen Leinwand die wichtigsten Stationen auf Wielands Lebensweg dargestellt sind. Alles sehr hell; weisser Hintergrund und hellgraue Schrift (die trotzdem gut lesbar ist!) dominieren. Dazu rote Farbtupfer, die der Hervorhebung dienen. Da das Häuschen schon klein ist, sind es auch die Innenräume. Und da man den wenigen Platz nun nicht vollstellen wollte – zu Recht! – sind natürlich nur die wichtigsten Informationen aufgeführt. Kleine Häppchen, die Appetit machen sollen, nicht eine grosse, schwere, ganze Wieland-Mahlzeit. Wer sich schon einmal mit Wieland beschäftigt hat, wird in diesem unteren Raum kaum Neues erfahren.
Den ersten Stock erreicht man dann über eine Innentreppe mit separatem Eingang. Oben erwarten den Besucher zwei Räume, ein grösserer und ein kleinerer. Der kleinere ist im selben Stil gestaltet wie der untere Raum. Hier wird ein ganz spezieller – und nicht unwichtiger! – Teil von Wielands Leben dokumentiert: seine Frauen. Seine Cousine und erste Verlobte Sophie Gutermann (spätere von La Roche), Julie Bondeli (die Berner Salonnière, von der sich Wieland abwechselnd abgestossen und angezogen fühlte), Christine Hogel (eine Katholikin, der er ein Kind machte, die er aber nicht heiraten durfte, weil sowohl sein protestantisches wie ihr katholisches Elternhaus in der jeweils andern Konfession den Gott-sei-bei-uns vermuteten, und die dann mitsamt der gemeinsamen Tochter im Dunkel der Geschichte verschwindet) und last but not least Anna Dorothea von Hillenbrand, die er wohl eher aus Gründen der Vernunft, nicht aus Liebe, heiratete. Vor allem seine publik gewordene aussereheliche Lieb- und Vaterschaft hatte dem städtischen Angestellten das Leben in der Kleinstadt Abdera … äh … Biberach nicht leichter gemacht. (Horribile dictu: Ein Protestant und führender Beamter mit einer Katholikin!) Wieland lernte Anna Dorothea aber später offenbar aufrichtig schätzen und lieben. Immerhin zeugte er mit ihr 14 Kinder. Von der Decke des musealen „Frauen-Zimmers“ hängen Spruchbänder mit Wielands Zeugnissen über die jeweiligen Frauen. Zeugnisse, die auch beweisen, dass selbst Klassiker vor der männlichen Dummheit nicht gefeit sind, im Überschwang der Hormone jede Liebe gleich für eine ewige zu halten.
Der grosse Raum im ersten Stock ist fast zur Gänze mit einer Vitrine gefüllt, in der wir Wielands dichterische Tätigkeit in diesem Gartenhäuschen dokumentiert finden. Die Shakespeare-Übersetzungen mit den Herausforderungen in puncto Wortschatz, die Wieland dazu führten, Lehnwörter zu bilden und/oder ganz neue Begriffe zu schaffen. Von Wielands eigenen Werken aus der Biberacher Zeit kennt man vielleicht am besten Der Sieg der Natur über die Schwärmerey oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva und die Geschichte des Agathon. Man darf hier sein Auge an jeweiligen Erstausgaben delektieren. Dann noch Zeugnisse aus Wielands riesiger Korrespondenz – Papa Wieland war sein ganzes Leben lang ein grosser Briefschreiber vor dem Herrn. Am Fenster, von wo heute der Blick über den speziell gestalteten Park bis hin zu einem kleinen künstlichen Weiher (oder grossen Brunnen) geht, kann man sich denn auch einen Brief Wielands vorlesen lassen, in dem er sich, seinen Alltag und vor allem sein kleines Tusculum vor den Toren Biberachs mitsamt der (heute leider verbauten) Aussicht auf die umliegenden Dörfer auf sehr witzige Weise schildert.
Neben dem winzigen Wieland’schen Gartenhäuschen steht ein zweites, noch winzigeres. Das hat zwar mit Wieland direkt nichts zu tun. Pauly hat eine Zeitlang darin gewohnt (ja, der Pauly der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft), obwohl es dem Heutigen schleierhaft ist, wie er sich auf den wenigen Quadratmetern auch nur schon um die eigene Achse drehen konnte. Heute kann der Museums-Besucher hier dem berühmten Radio-Feature Wieland oder die Prosaformen von Arno Schmidt lauschen, in der Original-Vertonung des Süddeutschen Rundfunks von 1958. Obwohl der Raum schön kühl war, und die Verlockung, einfach sitzen zu bleiben, gross, habe ich nach dem ersten Teil diese Übung abgebrochen. Ich mag Schmidts Radio-Features, aber um ihnen zuhören zu können, muss ich in entsprechender Stimmung sein, denn der doch recht betuliche Stil der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts braucht einen ausgeruhten Geist.
Zuletzt noch meinen herzlichen Dank der Dame, die mich um knapp 14.00 Uhr so freundlich empfangen und mir alles erklärt hat. Ich habe leider vergessen, nach ihrem Namen zu fragen. Aber sie war äusserst engagiert und mit Liebe bei der Sache, was jeden, der liest, und der auch Ausgefallenes und Älteres gerne liest, mit Freude erfüllt. Einige der hier erwähnten Informationen stammen denn auch von ihr persönlich und nicht aus der Ausstellung. Selbst für das körperliche Wohlbefinden ihres Gastes war sie besorgt, indem sie sofort Klappstühle anschleppte, auf dass ich mich draussen vor dem Häuschen im Schatten der Äpfelbäume hinsetzen könne. Ein Angebot, das ich leider (meine Frau wartete auf mich) ausschlagen musste.
Alles in allem: Das Wieland-Museum ist zwar klein, aber vorzüglich gestaltet und verdient einen Abstecher. Eine Stunde wird dafür genügen, aber diese Stunde hat man gut verbracht.
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