Die Lalenburger und ihre ein Jahr jüngeren Brüder, die Schildbürger, sind eine „Erfindung“ des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Über den Autor wissen wir nichts. Obwohl er sich in der Vorrede von den bereits existierenden Schwanksammlungen mittelalterlicher Herkunft distanziert, hat er seine Schildbürgerstreiche aus eben denselben genommen – neu ist da im eigentlichen Sinne nur, dass er die Streiche geordnet hat und in eine Art übergreifenden Handlungsbogen eingefügt. Einige Schwänke könnten über die Vermittlung von Hans Sachs ins Buch gekommen sein – Genaues weiß man nicht.
Die Lalenburger nämlich waren einst ob ihrer Weisheit weit herum berühmt und als Ratgeber allerorten sehr gefragt. Alle Städte, Landschaften, ja selbst der Kaiser von Utopien, konnten nicht auf sie verzichten. Das führte dazu, dass fast alle männlichen Lalenburger irgendwo in der Fremde als Ratgeber fremder Herren saßen und ihre eigenen Geschäfte zu Hause sträflich vernachlässigten. Die wurden zwar unterdessen von ihren Frauen weitergeführt, aber (und da merkt man dann die Entstehungszeit schon – das Lalenbuch wurde zum ersten Mal 1597 gedruckt) sie konnten es halt nicht so gut wie ihre Männer. So gingen die Geschäfte der Lalenburger immer schlechter, bis eines Tages die Frauen an ihre Männer schrieben, sie sollten sofort heimkommen und sich zunächst einmal um ihre eigenen Dinge kümmern. Gesagt, getan. Und die Männer erschraken über den schlechten Zustand ihres Gemeinwesens – so sehr, dass man nach einem Ausweg suchte, wie man in Zukunft die fremden Anfragen abwimmeln könnte, ohne bei irgendwem schlechtes Blut zu verursachen.
Doch die Lösung ist eigentlich schon der erste Schildbürgerstreich – denn, wenn die Männer tatsächlich so intelligent gewesen wären, wie die Geschichte vorgibt, hätten sie sehen müssen, dass ihr Ausweg aus dem Dilemma den Flecken Lalenburg nur umso schneller ins Verderben führen müsse. Man beschloss nämlich, sich in Zukunft in allem, was das Gemeinwesen anginge, sich so dumm wie möglich anzustellen.
Dem Autor gibt das die Möglichkeit, alte Schwänke über die Dummheit (vor allem der Bauern!) hervorzukramen, in Ort und Zeit anzupassen und einzufügen. Je nach Edition variiert die Zahl und der Inhalt der Schwänke. Ich werde hier keinen nacherzählen.
Für die heutige Zeit erst eigentlich wieder entdeckt worden sind die Lalenburger durch die späte Romantik, genauer Ludwig Uhland und Ludwig Tieck. Literaturgeschichtlich sind vor allem zwei Nachfolger der Lalenburger berühmt geworden: Da ist – und nun sogar vor der Romantik – Christoph Martin Wielands Geschichte der Abderiten, in der die griechische Stadt Abdera die Rolle Lalenburgs einnimmt. Allerdings hat Wieland – zumindest in den ersten Büchern dieser Geschichte – mit dem Philosophen Demokrit noch eine Art aufklärerisches Gegenbild zur dumpfen Dummheit der Abderiten hinzugefügt, etwas, das im Original fehlt. Seine Abderiten werden vor dieser Folie denn auch zu mehr als nur ein paar dummen Bauern irgendwo in der Provinz, die sie im Lalenbuch unvermerkt geworden sind. Sie stellen das satirisch verzerrte Bild seiner (Wielands) eigener Zeit dar.
Man sagt Wieland nach, dass er bei Abdera und den Abderiten zunächst einmal an seine Heimatstadt Biberach an der Riß und deren Einwohner dachte. Ähnlich hat sich wohl auch Gottfried Keller an seiner Heimatstadt Zürich gerächt, als er das fiktive Städtchen Seldwyla und deren Einwohner erfand – die nun die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen hatten. Allerdings sind wir mit Kellers Seldwyler Geschichten schon wieder in einer andern Epoche – die große Gefahr für Seldwyla war bereits weniger ihre eigene Dummheit als der äußerst gerissene Kapitalismus, der im 19. Jahrhundert mehr und mehr um sich griff und die alten kleinstädtischen Strukturen auch in Zürich zerstörte.
Seither gab es zwar Nacherzählungen der Schildbürgerstreiche, aber eine Neuerfindung in aktuellem Gewand ist mir nicht bekannt.
Man sollte sich also – neben Wieland und Keller natürlich – am besten ans Original halten.
Ich habe die Schildbürgerstreiche in folgender Ausgabe gelesen:
Die Schildbürger oder das Narren- und Lalenbuch. Mit alten Holzschnitt-Bildern herausgegeben von Hans Schumacher. Basel: Amerbach-Verlag, 1947. [Ein Buch, das ich noch aus der Bibliothek meines Vaters habe.]