Konstantin von der Pahlen: Im Auftrag des Zaren in Turkestan

Graf von der Pahlen (* 1861) war Mitglied des deutsch-baltischen Adels, eine Gesellschaftsschicht, die seit langem und noch zu seiner Zeit immer wieder russische Zaren mit äußerst brauchbaren hohen Verwaltungsbeamten versorgt hatte. Die Deutsch-Balten waren am Hof beliebt, denn sie waren effizient und loyal. Was vor allem und auch bedeutete: Sie waren nicht korrupt und nicht korrumpierbar. So war es wohl kein Wunder, als Zar Nikolaus II., dem von der Pahlen schon in verschiedenen hohen Funktionen gedient hatte, ihn zum Leiter jenes Ausschusses ernannte, den der Senat des höchsten Appelationsgerichts im Kaiserreich 1908 errichtet hatte, um die allgemeine und die besonderen Lage im so genannten Turkestan zu untersuchen. Nikolaus II. hatte da gerade eine liberale Phase …

Es ging bei diesem Untersuchungsausschuss darum, die immer wieder gehörten Vorwürfe der Korruption in den lokalen und regionalen staatlichen Gremien in Turkestan genauer unter die Lupe zu nehmen. Es war dafür sogar ein eigener Richter ernannt worden, dem von der Pahlen in der Tat einige korrupte Funktionäre zur Verurteilung übergab. Dazu reiste der Graf 1908 / 1909 in jene südöstliche Ecke des Kaiserreichs an den Grenzen zu Afghanistan, Indien und China, am Fuße des Pamir, in der die Verhältnisse wohl am Schlimmsten waren. In heutigen Staatsgrenzen ausgedrückt, bereiste von der Pahlen Teile von Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan. Damals waren es Gebiete, über deren genauen Status nicht einmal im Kaiserreich Einigkeit herrschte: Waren es nun Teile des Reichs oder doch ’nur‘ assoziierte Staaten? Jedenfalls wollte Russland jene Gegend kolonisieren und das Kaiserreich benahm sich vor Ort denn auch wie jede Kolonialmacht – sprich: ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen wurde versucht, jenen Regionen eigene Strukturen überzustülpen. Bzw., die Leute vor Ort gaben vor, es zu tun, wirtschafteten aber vor allem in die eigene Tasche.

Konstantin von der Pahlens Reisebericht ist voller Details über Land und Leute. Man spürt, dass er mit den Einheimischen sympathisiert und wo es möglich ist, nimmt er ihnen auch die schlimmsten Sykophanten weg. Immer wieder schildert er Sitzungen des Untersuchungsausschusses, Gelage, zu denen er in offizieller Funktion eingeladen war – und die große Hitze und Trockenheit des Landes. Er ist froh, wenn er mit der Eisenbahn reisen kann, aber oft ist er auf die lokale Methode von Kutschen angewiesen, die von Kamelen oder halbwilden Pferden gezogen werden, wenn nicht gar auf völlig unzureichenden Schiffstransport. Der Graf bewundert die Geduld der Einheimischen. Diese sind alle Muslime und von der Pahlen führt die – seiner Meinung nach für südliche Völker ungewöhnliche – gegenseitige Rücksichtnahme der Leute auf die Ausbildung der Jungen durch die Mullahs zurück. Einzig die Behandlung der jungen Frauen, die schon als kleine Mädchen vom Vater in die Ehe verkauft werden, ist immer wieder Gegenstand seiner Kritik, aber er hütet sich, hier einzugreifen.

Graf von der Pahlen konnte, wie gesagt, einige der schlimmsten und offensichtlichsten Übeltäter überführen und einer Verurteilung zuführen. Außerdem füllte er mit seinen Untersuchungen ein Memorandum von 21 Bänden. Schon rasch war aber klar, dass in St. Petersburg zu viele Leute vom aktuellen System profitierten und eine wirkliche Änderung der Verhältnisse nicht in deren Interesse sein konnte. Man blockierte, wo man konnte, was umso einfacher war, als Zar Nikolaus II. seinen liberalen Anfall überwunden hatte. Konstantin von der Pahlen verzichtete deshalb denn auch darauf, einen diesbezüglichen Posten als Staatssekretär einzunehmen. Zudem war, wie gesagt, die liberale Phase von Nikolaus II. bereits 1909 wieder vorbei – er steuerte mehr und mehr in die alten absolutistischen Verhältnisse des Kaiserreichs zurück.

Den vorliegenden Reisebericht verfasste Konstantin von der Pahlen im Jahre 1922. Unterdessen war der Erste Weltkrieg über Europa gezogen und das Zarenreich in der Russischen Revolution untergegangen. Alles, was der Graf in Turkestan untersucht oder erreicht hatte, hatte sich in diesen Ereignissen ziemlich sicher in Luft aufgelöst. Von der Pahlen selber kämpfte noch auf der Seite der Weißen Armee gegen die Rote, musste dann aber 1917 zunächst nach Finnland, 1918 nach Wernigerode fliehen. Auf der Flucht gingen seine Unterlagen verloren, und 1922 rekonstruierte er seine ganze Reise aus dem Gedächtnis. Ist schon dies verblüffend, ist es noch mehr verblüffend, wenn man bei der ganzen Lektüre kaum einen Hinweis auf die letztendliche Sinnlosigkeit seiner Anstrengungen findet, keine Klage – weder gegen Zar Nikolaus II., noch gegen die neue Regierung in Moskau – einfach nur einen sachlichen Bericht über seine Zeit und seine Reise in Turkestan. Bis zum Schluss blieb Konstantin von der Pahlen der loyale Verwaltungsbeamte, der er immer gewesen war.

Sein Bericht wurde übrigens erst 1964 zum ersten Mal veröffentlicht – auf Englisch. (1910 erschien in St. Petersburg der offizielle Bericht, den er im Namen der Untersuchungskommission verfasste, der aber mit seinem später verfassten Reisebericht nicht identisch ist.) Fünf Jahre nach der englischen Übersetzung, 1969, erschien dann die deutsche Version in der Bibliothek klassischer Reiseberichte, herausgegeben von Georg A. Narciss, in der ich den Text nun auch gelesen habe.

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