7 Schwaben fliegen zum Mars. Wer sich bei dieser Affiche an ein Märchen der Brüder Grimm erinnert fühlt, mag nicht Unrecht haben. Im Falle unseres Romans handelt es sich aber nicht um irgendwelche Schwaben, sondern wir haben 7 Professoren der Universität Tübingen vor uns, die auch mit Namen vorgestellt werden:
- Prof. Dr. Siegfried Stiller: Astronomie, Physik und Chemie
- Prof. Dr. Paracelsus Piller: Medizin und allgemeine Naturwissenschaft
- Prof. Dr. David Dubelmeier: Jurisprudenz
- Prof. Dr. Bombastus Brummhuber: Philosophie
- Prof. Dr. Hieronymus Hämmerle: Philologie
- Prof. Dr. Theobald Thudium: Nationalökonomie
- Prof. Dr. Fridolin Frommherz: Ethik und Theologie
Die Namen sind allerdings schon wieder das Komischste an ihnen, auch wenn Daiber zu Beginn versucht, ein bisschen Komik in die Erzählung zu bringen. Da nämlich treffen wir auf Professor Stiller, der zunächst zu Hause in seinem privaten Observatorium zum wiederholten Mal den Mars im Teleskop betrachtet. Die dort sichtbaren Kanäle sind für Stiller der sichere Beweis, dass nicht nur intelligentes, sondern sogar technisch hoch entwickeltes Leben auf dem Mars existiert (der gute Schiaparelli hat ganzen Generationen von Science Fiction-Autoren diese Laus in den Filz gesetzt). Das hat ihn veranlasst, seine sechs Kollegen zusammenzutrommeln und das finanzielle Vermögen der Universität Tübingen anzuzapfen – zum Zweck des Baus eines Luftschiffs, das zum Mars fliegen kann.
Die komische (oder zumindest vom Autor als komisch intendierte) Szene ist dann die am folgenden Tag, als Stiller seine beiden Bauleiter zusammenfaltet, weil sie eigenmächtige Änderungen an seinem sorgfältig entwickelten Bauplan vorgenommen haben, die nun in letzter Minute wieder rückgängig gemacht werden müssen. Gerade ist der Mars nämlich in Erdnähe und davon will Stiller profitieren, um die Reise so kurz wie möglich zu halten.
Nun, die 7 Gelehrten können dann doch noch relativ pünktlich starten. Die Reise verläuft nach heutigem Empfinden recht ereignislos. Sie geraten in einen Kometenschwarm und touchieren zum Schluss noch den Marsmond Phoebus, aber Daibers erzählerische Mittel reichen nicht aus, hier wirklich Spannung daraus zu generieren. Der große Teil des Romans ist dann dem Leben der 7 Erdlinge auf dem Mars gewidmet, wo sie tatsächlich eine hoch entwickelte Zivilisation antreffen – nicht nur technisch hoch entwickelt, sondern auch ethisch-moralisch. Die Marsbevölkerung (Daibler nennt sie Marsiten) ist sehr homogen gestaltet. Offenbar haben alle dieselbe Hautfarbe, dieselbe (wenn überhaupt eine) aufgeklärte Religion und dieselbe Sprache. So, wie es 7 Weise sind, die von der Erde zum Mars reisten, so besteht die marsitische Gesellschaft aus 7 Stämmen, die 7 verschiedenen Beschäftigungsarten entsprechen:
- Stamm der Weisen oder der Hüter des Gesetzes
- Stamm der Heiteren (Bildende Künste: Maler, Bildhauer, Komponisten)
- Stamm der Ernsten (Gelehrte aller Richtungen)
- Stamm der Frohmütigen (Darstellende Künste: Musiker, Schauspieler)
- Stamm der Sorgenden (Acker- und Gartenbauer und Dienende)
- Stamm der Flinken (Handel- und Verkehrtreibende)
- Stamm der Findigen (Industrielle)
Trotz der Existenz der beiden letzten Stämme erfahren wir nichts über die Ökonomie der Marsiter. Nach allem, was unsere 7 Schwaben sehen und erleben (bzw. was der Autor erzählt), könnte es sich um einen kommunistischen Idealstaat handeln, in dem jeder und jede ihre Pflicht erfüllt und als einzige Belohnung die Anerkennung der Gesellschaft erhält, die sich darin ausdrückt, dass er oder sie einen Namen tragen darf. Mord und Totschlag existieren offenbar ebenso wenig, wie der Wunsch, die Erde und ihre Bevölkerung zu kolonisieren, was für die technisch überlegenen Marsiten kein Problem wäre. Nach ihrer Bekanntschaft mit den 7 Schwaben, die zwar keinerlei großen moralische Defekte aufweisen, aber offen und ehrlich von der Erde erzählen, möchten die Marsiten auch keinen weiteren Kontakt mit der kulturell und moralisch so weit zurück gebliebenen Menschheit.
Wir sehen: Sobald wir auf dem Mars sind, verfällt Albert Daibler in eine Verherrlichung hehrer moralischer Praxis. Das Buch trägt den Untertitel Eine Erzählung für die reifere Jugend (wie damals des öfteren praktiziert), aber ich glaube nicht, dass die reifere Jugend dieses Buch wirklich goûtiert haben kann. Es ist kaum Spannung drin, keinerlei ‚Action‘, und wenn ich es doch mit Vergnügen gelesen habe, dann ist das der antiquierten Betulichkeit und dem naiven Stolz aufs eigene Schwabentum geschuldet. Der Autor war selber von Haus aus Schwabe, hat allerdings in Zürich Pharmazeutik und dann auch noch Medizin studiert und später in Chile eine Arztpraxis geführt. Aber wenn unsere 7 Gelehrten Heimweh haben, ist es nicht nach Deutschland, sondern nach Schwaben, nach Stuttgart (wo sie auf dem Cannstatter Wasen gestartet sind) und nach Tübingen.
Das Buch (eigentlich sind es zwei: Drei Jahre auf dem Mars, wahrscheinlich 1909 erschienen, und Vom Mars zur Erde von 1914) trägt natürlich deutliche Spuren von Kurd Laßwitz‘ Roman Auf zwei Planeten auf sich. Doch wo Laßwitz 1897 eine (zwar ein bisschen gewaltsam herbeigeführte) Verwirklichung des pazifistischen Traums zumindest im Rahmen der Fiktion sah, ist Daibler ein großes Stück pessimistischer. Seine vom Mars zurückgekehrten 7 Schwaben können zwar die hehren moralischen Sitten der Marsiten predigen, aber hören will fast niemand. Einige bedauern beinahe, dass die 7 Gelehrten überhaupt je vom Mars zurück gekommen sind, denn die
früher so heiteren Männer waren als offenkundige Menschenfeinde zurückgekehrt. Sie wären somit besser im Lande geblieben.
Besser kann der Schwabe, ja wohl überhaupt der Mensch, nicht beschrieben werden.
Zum Schluss noch einige Aperçus, die ich mir so nebenbei notiert habe:
Die 7 Schwaben essen und trinken sehr gern, auch in ihrem Raum-Luftschiff. Mit Ausnahme eines Abstinenzlers ist ihr Lieblingsgetränk der einheimische (später dann der marsitische) Wein, dem sie zum Teil in recht großen Mengen zusprechen.
Das Ganze spielt in der Mitte des 20. Jahrhunderts und es existieren bereits nur noch elektrisch betriebene Fahrzeuge. Auch das Raum-Luftschiff der 7 Schwaben wird elektrisch vorwärts bewegt.
Physikalisch sind so einige Ungereimtheiten zu entdecken. Doch genau die eine, große, die Hans Frey in seinem Nachwort »Vom Wahren und Guten« gefunden zu haben meint, existiert nicht. Immerhin hat Daibler als Pharmazeut und dann als Mediziner doch wohl rudimentäre Grundkenntnisse der Physik erworben. Wenn also Frey schreibt: Daibler ignoriert, dass ein Luftschiff ohne Luft nicht fliegen kann, als Weltraumgefährt also ungeeignet ist., so ignoriert Frey seinerseits nicht nur, dass ein Luftschiff nicht fliegt sondern fährt, er begreift auch nicht, was er selber ein paar Zeilen weiter schreibt: […] den Auftrieb besorgt ein geheimnisvolles Gas namens Argonauton, die Folienhülle ist durch ein besonderes Verfahren leicht, aber dennoch hart wie Stahlpanzerung .[…]. Wozu sollten diese Spezialausführungen gut sein, wenn doch sowieso keine Luft da ist? Nun, entweder überliest Frey das häufig auftauchende Wort vom Ätherraum, durch den das Luftschiff fährt, oder er, der von Haus aus Germanist ist und offenbar wenig von Wissenschaftsgeschichte weiß, realisiert die Bedeutung des Wortes Äther im damaligen physikalischen Kontext nicht. Der Äther war noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine von der ‚zünftigen‘ Physik selbstverstänlich verwendete Hilfskonstruktion, eine Art unstofflichen Stoffs, die das Vakuum des Weltraums füllte, weil doch irgendwie die Lichtwellen transportiert werden mussten. Erst Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie hat dieser Hypothese endgültig den Garaus gemacht. Bei der Veröffentlichung der Relativitätstheorie waren aber Die Weltensegler bereits mit ihrem Luftschiff unterwegs (das der Autor besser ein Ätherschiff getauft hätte, denn offenbar stellte er sich den Äther als eine Art sehr, sehr verdünntes Gas im Weltraum vor – was dann auch erklären würde, warum unsere 7 Schwaben die vorbeifliegenden Meteoriten in ihrem Schiff hören können). Daibler war hier zumindest durchaus auf der Höhe der Physik seiner Zeit.
Alles in allem habe ich mich über die der Zeit geschuldeten Umständlichkeiten und Seltsamkeiten mehr amüsiert als über die eigentliche Geschichte oder die Figuren, die so schablonenhaft bleiben, wie ihre Namen es andeuten.
Gelesen habe ich folgende Ausgabe:
Albert Daiber: Die Weltensegler. Ein Erzählung für die reifere Jugend. Berlin: Hirnkost KG, 2022.
[Es handelt sich hier um einen kompletten und mit Liebe gestalteten Neusatz des Textes. Fester Einband, Fadenheftung und Lesebändchen vervollständigen den recht gediegenen Eindruck des Buchs. Man lasse sich auch nicht von dem teilweise in gebrochener Schriftart gesetzten Titel irritieren. Diese Schriftart wird heute häufig von brauner Seite her missbraucht (in absoluter historischer Unkenntnis, nebenbei); hier haben wir aber nichts Derartiges vor uns. Die lila statt schwarz gedruckten Lettern sind allerdings gewöhnungsbedürftig und wären wohl nicht nötig gewesen. Im Übrigen, für Interessierte: Das Buch ist Teil einer neuen Reihe Utopien in der Science Fiction oder Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction, die vor kurzem vom Hirnkost-Verlag begonnen wurde.]