Captain John Carter of Virginia ist der Prophet, der nur in seinem Vaterland etwas gilt. Wenn die Musikindustrie den Begriff ‚Big in Japan‘ kennt und damit meint, dass eine Band in ihrer Heimat völlig unbekannt ist, aber auf der anderen Seite des Globus Kult-Status genießt, so müsste man von Captain John Carter of Virginia sagen, er sei ausschließlich ‚big at home‘. Zumindest war er es. Er scheint nun auch in den USA seinen Ruhm verloren zu haben: In den 10er Jahren dieses Jahrhunderts hat Disney einen Film mit dem Inhalt des ersten der insgesamt 12 im Universum des John Carter erschienenen Bücher produziert. Einen Flop. Unter den im Nachhinein geführten gegenseitigen Schuldzuweisungen war auch jene an die Marketing-Abteilung, dass man dem Film den nichtssagenden Titel John Carter gegeben habe – ein Name, so der Tenor, der der jungen Generation, die man habe ins Kino locken wollen, nichts mehr sage.
Dem mag sein, wie dem ist, aber es gilt festzuhalten, dass zumindest im 20. Jahrhundert Captain John Carter of Virginia beim Publikum noch in dem Ausmaß Kult war, dass sich Autoren-Kollegen im Bereich Science Fiction problemlos auf ihn beziehen konnten. Ray Bradburys Martian Chronicles übernahmen von Burroughs das Bild eines physisch alten Mars, dessen Zivilisation ebenfalls alt und im Untergang begriffen war. (Wobei Burroughs dieses Bild seinerseits vom US-amerikanischen Astronomen Percival Lowell übernommen hatte, der auf Grund der vermeintlich vorhandenen Kanäle auf dem Mars – deren Sichtung wiederum auf Giovanni Virginio Schiaparelli zurückgeht – und der Theorie, dass die Sonne seit ihrer Entstehung langsam erkalte, darauf schloss, dass die wegen der Kanäle offenbar vorhandenen hochentwickelten intelligenten Lebensformen auf dem Mars im Aussterben begriffen sein müssten, falls sie es nicht schon waren. Auch andere Autoren hatten diese Auffassung übernommen, im deutschen Sprachraum namentlich Kurd Laßwitz – den Burroughs aber kaum gekannt hat, wurde sein Roman Auf zwei Planeten doch erst 1975 ins Englische übersetzt. Vom – seinerseits von Laßwitz abhängigen Daiber ganz zu schweigen.) Auch die telepathische Begabung, die Bradburys Marsmenschen in einigen Geschichten zeigen, weist auf Burroughs zurück. Ein anderes Beispiel ist Robert A. Heinlein. Der kannte in seinen frühen Werken bzw. seinen ‚Juveniles‘ das Konzept des alten Mars mit einer hochentwickelten, telepathisch begabten aber aussterbenden Bevölkerung ebenfalls. Noch in Stranger in a Strange Land greift er darauf zurück, und in The Number of the Beast stellen schon die Namen der Hauptfiguren, Zebadiah „Zeb“ John Carter und Dejah Thoris „Deety“ Burroughs, eine Hommage an die Mars-Romane von Edgar Rice Burroughs dar, ist doch Dejah Thoris der Name der Mars-Prinzessin und des ‚Love-Interest‘ unseres Helden. Vom Einfluss auf weitere Autoren will ich jetzt gar nicht sprechen, nur last but not least erwähnen, dass noch in den 1990ern, in der Science-Fiction-TV-Serie Babylon 5 eine Anwältin vom Mars in einer Nebenrolle erschien mit dem Namen Amanda Carter – die Enkelin eines der ersten Kolonisten auf Mars, John Carter.
Der Gehalt an ‚Science‘ in dieser ‚Science Fiction‘ um Captain John Carter of Virginia hält sich im Übrigen in Grenzen. Carter wird für die Reise von der Erde zum Mars in eine Art Astralkörper gepackt, der genau gleich aussieht wie sein Originalkörper und auf unbekannte Art und ohne sein Wissen oder Wollen zum Mars teleportiert. Dieser zweite Körper erweist sich als durchaus real, und mehr als einmal geht es darum, dass Carter auf dem Mars über unverhältnismäßig große Körperkräfte verfügt, weil – so die Begründung – seine Muskeln eben an die Schwerkraft der Erde gewöhnt sei. Dass er andererseits dafür in der viel dünneren Luft des Mars erhebliche Atemprobleme haben sollte, wird aber nicht berichtet. Und wenn er später auf seinen mit Dejah Thoris gezeugten Sohn trifft, stellt sich heraus, dass dieser offenbar die Muskelkraft seines Vaters geerbt hat …
Überhaupt, die Marsmenschen. Es gibt bei Burroughs verschiedene Rassen von ihnen. Sie unterscheiden sich in ihrer Haut-, Haar- und Augenfarbe. So haben wir rote Marsianer (die dominante Rasse), grüne, gelbe, weiße und schwarze. Dejah Thoris ist die Prinzessin einer der wichtigsten Städte (und Stämme) der roten Marsianer, Helium. Die Marsianer sehen den Menschen sehr ähnlich (Carter kann sich mit ein bisschen Verkleidung und Schminke im Lauf der Geschichten ein paar Mal als Marsianer der einen oder der anderen Rasse ausgeben), sind aber im Gegensatz zum Homo Sapiens ovipar (eierlegend). (Das hindert sie nicht daran, einen Bauchnabel zu haben, und die Frauen haben auch Brüste. Beides kann man problemlos sehen, laufen die Bewohner des Mars doch meist splitterfasernackt herum.) Einzig die grünen Marsianer (die ersten, denen Carter auf dem Mars begegnet) sehen signifikant anders aus: Die Männer sind ungefähr vier Meter groß, die Frauen drei. In der Mitte ihres riesigen Körpers befindet sich ein drittes Paar Gliedmaßen, das sie wahlweise als Arme und Hände oder als Beine und Füße einsetzen können. Die unteren Fangzähne wachsen ihnen eberartig aus dem Mund und statt der Ohren haben sie oberhalb der Augenbrauen eine Art Tentakeln. Im Übrigen sprechen alle Marsianer die gleiche Sprache, die Carter denn auch sehr rasch lernt.
Daneben ist Carters Marswelt sehr simpel: Es gibt einzig Gute oder Böse auf dem Mars – keine Graustufen. Den Bösen sieht man es sofort an, dass sie böse sind, da sie ihr Mienen- und Augenspiel nie unter Kontrolle haben. Auch die Abfolge der Abenteuer ist immer dieselbe von gefangen werden, befreien, wieder gefangen werden usw. usw. Es spricht für die schriftstellerische Gewandtheit Burroughs‘, dass es ihm gelingt, dieses Schema inhaltlich so zu variieren, dass ich erst zu Beginn des dritten Buchs bei der Lektüre anfing, Langeweile zu empfinden. Im Übrigen ist in diesen Romanen vertretene Weltbild tiefstes 18. Jahrhundert, wo der große und allenfalls temporär besiegbare männliche Held seine Geliebte aus allerhand Gefahren rettet (im Englischen heisst diese Sorte Heroinen ‚damsell of distress‘). Gefahren oft mit sexuellem Unterton: Zwar wird Sex nie auch nur erwähnt, aber der ‚damsell of distress‘ werden immer wieder Zwangsheirat oder gar – unterschwellig – Vergewaltigung angedroht. Last but not least ist der Held natürlich ein ausgezeichneter Schwertkämpfer – die meisten Zweikämpfe finden denn auch mit dem Langschwert statt, obwohl sogar eine Art Pistolen auf diesem Mars existieren. Die Flugzeuge, die es gibt, müssen wir uns als eine Mischung aus eigentlichem Flugzeug und einem Luftschiff vorstellen. Jedenfalls werden sie wie Schiffe geentert und man kämpft dann auf dem Deck um die Herrschaft über dieses fliegende Ding – das andererseits von einem Strahl angetrieben wird, den die roten Marsianer entdeckt haben und den also nur die Marsmenschen kennen.
Eine – manchmal krude, manchmal aus heutiger Sicht absurde, also witzige – Mischung aus eigentlicher Science Fiction und aus Fantasy. Etwas für einen heißen Sommerabend. Und für Historiker*innen der Science Fiction bzw. der Pulp Fiction – denn als Heftroman hat John Carter das Licht der Welt erblickt.
Gelesen habe ich folgende Ausgabe:
Edgar Rice Burroughs: Under the Moons of Mars. Lincoln / London: University of Nebraska Press, 2003. (In der Reihe Bison Frontiers of Imagination.) Das Buch enthält die ersten drei der zwölf Bücher um John Carter, nämlich A Princess of Mars (in Heftform 1912 erschienen, als Buch 1917), The Gods of Mars (1913 / 1918) und The Warlord of Mars (1913-14 / 1919). Der von den Herausgebern meines Buchs verwendete Titel ist der Originaltitel des Heftromans von 1912. Deutsche Übersetzungen existieren für alle Bücher unter verschiedenen Titeln, die ich hier nicht anführe.