Mascha Kaléko hatte ihre ersten Erfolge im Berlin der Weimarer Republik. Sie gehörte zu jenen Autor*innen, die – in Abwendung vom aufgeregten Stil des Expressionismus – in Alltagssprache Alltagsprobleme in Verse brachten. Dies immer von einem mehr oder weniger linken, gesellschaftskritischen Gesichtspunkt aus. Später würde die Literaturwissenschaft von der „Neuen Sachlichkeit“ reden. Brecht sprach von „Gebrauchslyrik“, und tatsächlich wurden diese Verse gebraucht – nämlich als Vorlage zu Vertonungen. Sie wurden als Chansons von einer der vielen Kabarett-Bühnen Berlins verwendet. Auch Mascha Kaléko gehörte zu jenen, deren Texte von den Bühnen gesungen wurden.
Mascha Kolékos Gedichte drehen sich um die prekäre Situation der arbeitenden Bevölkerung – der eigentlichen Arbeiter und der kleinen Büroangestellten. Da wiederum stehen die Frauen im Zentrum ihres Dichtens, deren Situation noch prekärer war als die der Männer. Verheiratet mussten sie meist die Mehrfachbelastung von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung stemmen; unverheiratet kümmerten sie in mickrig ausgestatteten möblierten Zimmern, da sie sich von ihrem Gehalt nichts anderes leisten konnten. Da saßen sie und träumten von der großen Liebe, vom reichen Prinzen, der sie erlösen würde. Bis dieser Prinz auftauchte, begnügten sie sich auch mit weniger noblen Männern. Manch eine hat sich wohl aus der Not auch beim Abteilungsleiter prostituiert, um ein wenig mehr Gehalt zu kriegen. All dies schildert Koléko in ihren Gedichten.
Sie schrieb dabei durchaus aus eigener Erfahrung. Tochter russischer Juden, die vor den Pogromen der jungen Sowjetunion nach Deutschland geflohen waren, wurde ihr vom Vater ein Universitätsstudium verwehrt – eine Ausbildung zur Stenotypistin tat es auch. Hier wurde wohl der Grundstein gelegt für die immer wieder (und im Lauf der Jahre immer mehr) aufscheinende emanzipatorische Note ihrer Gedichte. Sie fand trotzdem Anschluss an die literarischen Gefilde der Weimarer Republik, und ihr erstes Buch, Das lyrische Stenogrammheft verkaufte sich sehr gut (verkauft sich bis heute sehr gut). Wir alle wissen, wie die Weimarer Republik endete. Nachdem Kaléko für kurze Zeit unter dem Radar der Nationalsozialisten geflogen war (ihre Bücher wurden bei der Bücherverbrennung nicht genannt!), mussten sie und ihre Familie doch aus Deutschland fliehen. Auch im Exil schrieb Kaléko weiter Gedichte. Die wurden zusehends persönlicher. Nicht nur ihre Liebesgedichte waren nun an einen bestimmten Mann adressiert (hierin – nicht aber im Stil – näherte sich sich jener anderen großen deutschen Lyrikerin des 20. Jahrhunderts an, Else Lasker-Schüler). Sie thematisierte nun auch die Situation des Exils – im Allgemeinen, als Jüdin, als Frau, als jüdische Frau, last but not least als eine in einem fremden Sprachraum Deutsch schreibende Lyrikerin. Auf ihrer ersten Station im Exil, in Paris, verglich sie sich gern mit dem ebenfalls dort im Exil gwesenen Heinrich Heine. Anders als vielen anderen gelang ihr und ihrer Familie noch rechtzeitig der Sprung nach New York. Ihr Mann war ein nicht unbekannter Dirigent und konnte offenbar Beziehungen spielen lassen. Leider erwies sich seine Karriere doch nicht als so gesichert, wie die beiden geglaubt hatten, und die Familie lebte vorwiegend von dem Geld, das Mascha Koléko als Werbetexterin verdiente. Später folgte sie ihrem Mann nach Jerusalem – wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich todunglücklich war. Obwohl sie in einem ihrer Gedichte vorgibt, als junge Frau schon ihren Pessimismus an Schopenhauer und Weininger geschult zu haben, war sie doch in Sachen Liebe genau so blauäugig und naiv wie die von ihr dargestellten Frauen. Ihr Mann mochte sich in Jerusalem wohl fühlen; ihr fehlten alle intellektuellen und freundschaftlichen Kontakte, die sie doch auch in Paris und New York noch gehabt hatte. Ihre Lyrik wird entsprechend dunkel und melancholisch. Sie bleibt dennoch in Jerusalem, auch nach dem Tod ihres Mannes. Ein Besuch in Berlin ruft ihr wieder die glückliche, gute, alte Zeit dort in Erinnerung und sie überlegt sich, ob sie dort eine Wohnung kaufen sollte. Es kam nicht mehr so weit: Auf dem Heimweg nach Jerusalem wurde Kaléko von grausamen Schmerzen befallen und starb in Zürich an Magenkrebs. Sie wurde in einem dortigen jüdischen Friedhof bestattet – selbst im Tod noch im Exil.
Dass sie – anders als die männlichen Vertreter der Neuen Sachlichkeit – von der (meist männlichen) Literaturkritik nicht ernst genommen, nicht beachtet wurde, kommentierte sie selber ironisch in einem Gedicht. Die Akademie der Künste in Berlin beabsichtigte 1959, ihr den mit 4’000 DM dotierten Fontanepreis zu verleihen. Mascha Kaléko zieht ihre Kandidatur jedoch zurück mit der Begründung, das Jurymitglied Hans Egon Holthusen sei Mitglied der SS gewesen und es sei ihr nicht möglich, den Preis aus seiner Hand anzunehmen. Diese Zurückhaltung aus Gewissensgründen akzentuiert im Rückblick einen unkorrigierbaren Wendepunkt in der Biographie der Dichterin: Nach der Ablehnung des Fontanepreises war »Das bißchen Ruhm« der Nachkriegszeit wieder vorbei. Den schnoddrigen Kommentar, den der Vorsitzende der Jury zu ihren Rückzug äußerte (sinngemäß: man lasse sich doch von einer Person, die gar nicht in Deutschland lebe, vorschreiben, was man zu tun und zu lassen habe), wäre wohl, wäre sie ein Mann gewesen, nicht gefallen. (Und wirkt heute denn auch sehr, sehr peinlich.)
Aus heutiger Sicht darf man sagen: Es handelt sich bei Kalékos Gedichten um lesenswerte und alles andere als ‚verkopfte‘ Lyrik. Zumindest postum dürfte man sie wieder rehabilitieren.
Ich habe vor mir die Ausgabe der Büchergilde (2. Auflage 2020), in der praktisch alle von Kaléko zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte enthalten sind. Illustriert wurde das Buch von Hans Ticha. Eine empfehlenswerte Anschaffung.