Aristoteles: Topik [Des Organon fünfter Teil]

Wären die Herausgeber / Bearbeiter / Übersetzer der Topik des Aristoteles konsequenter in ihrer Titelgebung gewesen, müsste der vorliegende Text eigentlich als ‚Topik oder die Lehre vom Ort‘ in den Werken des Stagiriten geführt werden. Im Griechischen trägt dieses Werk den Titel Τόποι, Orte. Ursprünglich meint der Begriff ‚τόπος‘ tatsächlich einen Ort im physisch-geografischen Sinn. (So verwenden wir ihn ja bis heute in ‚Topografie‘, dem Fremdwort für die Beschreibung der Erdoberfläche.) Aristoteles nimmt sich als einer der ersten überhaupt das Recht des Philosophen und Naturwissenschaftlers heraus, Worte aus der Alltagssprache zu nehmen und sie der ursprünglichen Bedeutung zu entfremden, ihnen eine spezifisch (fach-)wissenschaftliche Bedeutung zuzuschreiben – hier für einen Bestandteil der Rede. Dabei meint er allerdings nicht, was wir heute unter ‚Topos‘ in der Rede verstehen, den feststehenden Gemeinplatz. Der ‚Topos‘ des Aristoteles geht mehr in die Richtung einer Aussage oder Proposition, und am nächsten kommt ihm wohl in der Topik die Übersetzung als (wissenschaftliche) These.

In der Antike und noch bis zum Anfang der Neuzeit wurde Wissenschaft nämlich vor allem so betrieben, dass sich einer (es waren fast ausschließlich Männer als Wissenschaftler, Philosophen oder Theologen tätig) hinstellte und eine These vortrug. Ein oder mehrere andere versuchten dann, entweder die These so lange und so sehr zu durchlöchern, dass der eine sie aufgeben musste, oder sie stellten eine Gegenthese auf, die dann der eine seinerseits zu durchlöchern hatte. Das Ganze fand traditionell als mündliche Diskussion statt, als Disput. Noch Luther mit seinen 95 Thesen oder Giovanni Pico della Mirandola, dessen Rede über die Würde des Menschen als Rechtfertigung dafür entstanden war, dass er sich traute nun gar deren 900 Thesen zum Disput vorzuschlagen, kannten und verwendeten diese altehrwürdige Tradition wissenschaftlichen Arbeitens. Wollten sie zumindest verwenden – dass die Kirche sich in beiden Fällen dem Disput nicht nur verweigerte, sondern völlig unwissenschaftlich mit physischer Gewalt gegen die Urheber der Thesen vorging, trug nicht unerheblich sowohl zum Zerfall dieser wissenschaftlichen Tradition bei, als auch zum Zerfall der Vorherrschaft der römisch-katholischen Kirche in Europa.

Zu Aristoteles’ Zeit begann sich diese Tradition natürlich erst zu bilden, und die Topik trug nicht unerheblich dazu bei, die Regeln der Dispute zu formulieren. Denn wissenschaftlich zu disputieren, sollte weder heißen, sein Gegenüber einfach niederzuschreien, noch durfte man sich durch rhetorische Kniffe einen Vorteil erschleichen. Es ging darum, im Gespräch – wenn nicht die Wahrheit (dieser Begriff komm in der Topik kaum vor), so doch – die wahrscheinlichste erklärende These zu einem Phänomen zu finden. Jedenfalls ist das die Voraussetzung in den ersten Kapiteln dieses Werks, wo eristisches Vorgehen ausdrücklich verpönt wird, während die Dialektik hoch gehalten wird. Das ist noch die antike Dialektik, die mit Hegel späterer Verformung nichts zu tun hat, sondern einfach die Kunst der Gesprächsführung darstellt. Allerdings verschiebt sich das Gewicht im Verlauf des Textes und spätestens im achten und letzten Kapiteln geht es eigentlich nur noch darum, im Disput Recht zu behalten. Das Gegenüber wird auch (zumindest in meiner Übersetzung – s.u.) nur noch Gegner genannt – der agonale Mensch, den Jacob Burckhardt als konstituierend für die ganze Griechische Kulturgeschichte gesehen hat: Hier können wir ihn tatsächlich finden.

Ein paar kleinere Bemerkungen noch:

‚Wissenschaft‘ umfasste zur Zeit des Aristoteles weit mehr als heute – nämlich den ganzen Forschungsbereich, den wir heute der Naturwissenschaft zuordnen, aber auch den nach heutigen Begriffen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Bereich, so z.B. die Sprachwissenschaft (auch diese wird in der Topik gestreift) und natürlich die eigentliche Philosophie im heutigen Sinn (auch ethische Problemstellungen streift Aristoteles in der Topik).

Das klassische Beispiel des philosophischen Disputs finden wir natürlich in den frühen Dialogen Platons, wo Sokrates ziemlich genau so vorgeht, wie es Aristoteles in seiner Topik vorschreibt. (Aristoteles nennt Platon in anderem Zusammenhang, auf seine Dialoge weist er nicht hin.)

Last but not least: Aristoteles warnt seine Schüler explizit davor, sich in unnütze Dispute einzulassen:

Man darf aber nicht mit jedem disputieren und sich nicht mit dem ersten besten einlassen; denn je nachdem der Gegner ist, kann aus den Disputationen nichts Rechtes werden. Wollte man einen Widerpart, der um jeden Preis den Schein behaupten will, dass ihm nicht beizukommen sei, um jeden Preis matt stellen, so wäre das zwar gerecht, aber man würde sich selbst vergeben. Deshalb darf man nicht leichthin mit jedwedem anbinden. Denn da kann nichts herauskommen als böses Gerede. [8. Buch, 14. Kapitel, 164b]

Man sieht: Die selbst ernannten „Querdenker“ gab es offenbar damals schon, und bis heute hören die gescheiten Leute beim Umgang mit ihnen nicht auf Aristoteles. (Wobei sich hier noch die Frage stellt, wie gescheit durchschnittliche Journalist*innen sind …)


Aristoteles: Topik. Neu übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eug. Rolfes. Leipzig: Felix Meiner, 1919. (= der philosophischen Bibliothek Band 12).

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