Friedrich Glauser: Der Chinese

Friedrich Glauser war sich der Schwächen seiner bisherigen Kriminalromane, vor allem der beiden letzten, sehr wohl bewusst. Hatte ihn doch gerade die Überarbeitung des zweiten Romans (Die Fieberkurve), der Versuch, das ‚Kriminalgerüst‘ der Erzählung noch einigermaßen gerade und logisch hinzubiegen, so viel Zeit und Mühe gekostet, dass der zweite sogar nach dem dritten das Licht der Lesewelt erblickte. Aber auch dieser dritte (Matto regiert) litt an ähnlichen Krankheiten wie der zweite: Zu viel Personal und zu viele vorgestellte Rätsel, die dann plötzlich nicht mehr zur gefundenen Lösung passten. Er hatte sich vorgenommen, nun, in seinem vierten Kriminalroman mit Wachtmeister Studer, in dieser Beziehung zurückhaltender zu werden.

Das ist ihm denn auch im Großen und Ganzen gelungen: Zwei Mordopfern stehen vier Verdächtige gegenüber – wobei eines der Mordopfer auch einer der Verdächtigen gewesen war. Dazu ein paar Nebenfiguren, die mehr der Atmosphäre denn der eigentlichen Handlung dienen. Von den bisher erschienenen vier Romanen ist dieser hier – rein als Kriminalroman betrachtet – sicher der gelungenste.

Was aber, mehr noch als das Handlungsgerüst, die Qualität der bisherigen drei Romane ausmachte, war Glausers hervorragendes Geschick, die Atmosphäre der jeweiligen Handlungsorte wiederzugeben. Die bedeutende Verbesserung im Aufbau der Kriminalhandlung ging zum Glück für den Roman nicht damit einher, dass ist ihm hier verloren gegangen wäre. Glauser zeigt sich auch in Krimi N° 4 als Meister der Atmosphäre.

Dieses Mal befinden wir uns in einem kleinen Dorf in der Berner Provinz. Eigentlich besteht die Ortschaft nur noch aus einer Korrekturanstalt für junge Männer und einer Gärtnerschule. (Beides wiederum, wie bei Glauser üblich, Institutionen, die der Autor aus eigener Erfahrung bestens kannte.) Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist ein Wirtshaus, das auch Gäste über Nacht aufnimmt, obwohl es – seit vor Jahrzehnten das dazu gehörende Bad zu einer Korrekturanstalt umgewandelt worden war – im Grunde genommen nichts Besseres mehr ist als eine billige Schnapsbude, wo die Gärtnerschüler und die Insassen der Korrekturanstalt manchmal hingehen und sich mit Obstler (Bätziwasser wird es in jener Gegend genannt und kann bis 78 Volumenprozent Alkohol enthalten) ihr Leben schöner trinken, auch wenn es ihnen eigentlich verboten ist.

Hier ist es, wo Studer, auf dem Heimweg von einem Fall, Halt macht, weil er vergessen hat sein Töff (sein Motorrad – wobei ich noch nachforschen müsste, warum Glauser das Wort offenbar als Neutrum behandelt; in meinem Dialekt ist es ein Maskulinum) in Olten zu tanken. Dabei trifft er auf eine seltsame Gruppe von Honoratioren – und auf den Chinesen. Der ist zwar kein Chinese, sondern ein Auslandschweizer, der wieder in die Heimat zurückgekehrt ist. Er sieht in Studers Augen aber aus wie ein Chinese, und so bleibt es bei diesem Namen. Der Chinese läuft nur bewaffnet herum, weil er sicher ist, dass man ihm hier nach dem Leben trachtet:

»Es kann nämlich möglich sein, dass ich ermordet werde«, sagte der »Chinese«. »Vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht in einem Monat – und vielleicht geht es auch länger … Sie trinken?«[S. 17]

Später wird er dann die Frist auf drei Monate verlängern.

Der Roman setzt allerdings vier Monate nach jenem Gespräch ein, als Studer wegen eines Mordfalls wieder in jene Gegend gerufen wird. Der »Chinese« liegt erschossen auf dem Grab der vor kurzem verstorbenen Gattin des Direktors der Korrekturanstalt.*) Der Schuss ging durchs Herz, aber die Kleidung des Toten ist äußerlich unberührt. Studer aber gehen – bevor wir zu den Erinnerungen kommen an jenen Abend von vor vier Monaten – seltsamerweise ein paar Verse durch den Kopf:

Dinge gehen vor im Mond, die das Kalb selbst nicht gewohnt. Tulemond und Mondamin liegen heulend auf den Knien.

Diese Verse stellen einen roten Hering dar; sie spielen im weiteren Verlauf der Handlung keine Rolle mehr – es ist aber eine gute psychologische Beobachtung, wie das menschliche Hirn sich von Zeit zu Zeit Dinge herausnimmt, die sich nicht gehören – zum Beispiel auf dem Friedhof, in Gegenwart eines Ermordeten, frivole Verse zu zitieren, nur weil einer der Anwesenden das Wort Mondkalb benutzt hat.

Überhaupt gelingt es Glauser auch in diesem Roman die beklemmende Atmosphäre in der Schnapsbeize, der Korrekturanstalt und auch der Gärtnerschule herüberzubringen. Studer selber nennt den Fall bei sich den Fall der drei Atmosphären und meint damit die drei verschiedenen Handlungsschauplätze. (Denn auch in Bezug auf die Schauplätze hat sich Glauser in seinem vierten Kriminalroman sehr zurückgenommen.) Die Lösung ist bedeutend logischer als in den bisherigen Romanen mit Wachtmeister Studer, und auch lose Fäden hängen nicht gar so viele heraus oder müssen mit Gewalt vernäht werden. Dieser Roman ist also auch als Kriminalroman für einmal gelungen.


Friedrich Glauser: Der Chinese. Roman. Zürich: Diogenes, 1989. (= detebe 21736)


*) Auf der Rückseite meiner Ausgabe wird ein gewisser Georg Hensel von der Süddeutschen Zeitung, München zitiert, offenbar ein Literaturkritiker, der offenbar geschrieben hat: […] seine Ermordung hat der ›Chinese‹ schon vor drei Monaten dem Wachtmeister Studer vorausgesagt. Was beweist, dass auch Literaturkritiker renommierter Zeitungen sich falsch erinnern können – zwar war die maximale Frist bis zu seiner Ermordung, die der Chinese Studer angegeben hatte, tatsächlich drei Monate. Studer aber (und mit ihm also auch Glauser) macht sich einen Punkt daraus, dass es deren vier waren – sogar genau vier: Studers Begegnung mit dem Chinesen fand am 18. Juli statt und es war unerträglich heiß und schwül; jetzt, auf dem Friedhof beim toten Chinesen schreiben wir den 18. November und es ist eiskalt – zu den Daten vgl. z.B. S. 29 meiner Ausgabe. Wikipedia hat zwar die vier Monate richtig, versetzt das erste Treffen von Studer und dem Chinesen auf einen Juniabend. Je nun …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert