Im Grunde genommen stellt dieser sechste und letzte Teil des Organon von Aristoteles eine Art Anhang dar zum fünften, der Topik. Vielleicht handelte es sich ursprünglich sogar um einen einzigen Text, vielleicht sind die Sophistischen Widerlegungen auch erst nachträglich entstanden, vielleicht gar auf Anfrage der Schüler, die mehr darüber wissen wollten, wie man Opponenten widerlegen soll, die absichtlich die in der Topik dargestellten Argumentationsfehler benutzten, um die Gegenseite hereinzulegen und zu Zugeständnissen zu verführen, die diese eigentlich gar nicht machen wollte.
Denn genau um dies geht es hier. Aristoteles gibt seinen Schülern in den Sophistischen Widerlegungen nicht etwa sophistische Widerlegungen in die Hand, sondern er liefert eine Art Anleitung dafür, wie man eben solche falschen Argumentationen des Gegenübers erkennen kann und – vor allem! – wie man ihnen begegnet. Grob gesagt empfiehlt der Stagirite zwei Vorgehensweisen: Man kann den Gegner mit dessen eigenen Waffen schlagen oder man zieht den Disput auf eine andere Ebene. Ersteres war zum Beispiel (der Hinweis stammt von Aristoteles selber) die Argumentationstechnik des Sokrates, der den Sophisten unter Verwendung ihrer eigenen Strategien widersprüchliches Denken nachweisen konnte.
Heute ist dieser Text allenfalls noch als eine Art propädeutisches Handbuch für Diskussionen in den Social Media zu brauchen, oder als Grundlage dafür, die Argumentationsstrategien der verschiedenen philosophischen Schulen aufzuzeigen – beides Situationen, in denen es nicht (nur) darum geht, die wahre oder auch nur eine wahrscheinliche Lösung eines Problems zu finden, sondern (auch oder gar vor allem) darum, im Disput Recht zu behalten oder zumindest diesen Anschein zu erwecken. Wie schon in der Topik zeigt sich in den Sophistischen Widerlegungen der von Jacob Burckhardt herausgestellte agonale Charakter griechischen Denkens in Reinform. Mit der Topik und den Sophistischen Widerlegungen biegt Aristoteles von einer reinen Logik ab und begibt sich nach und nach ins Feld der Rhetorik. (So wundert sich denn auch die Philosophiegeschichte seit Hunderten von Jahren darüber, dass jene Aristoteliker, die damals das Organon zusammenstellten, des Meisters Schrift zur Rhetorik nicht auch dort einreihten.
Daneben sieht man hier schon zwei Generationen nach deren erstem Erscheinen in der antiken griechischen Philosophie, wie sich der Ruf der Sophisten als Wortklauber und Meister im Recht-haben-Müssen bereits derart gefestigt hat, dass sich Aristoteles jede Begründung sparen kann, warum er ausgerechnet von sophistischen Argumentationen spricht, wenn er bösartige logische Verdrehungen meint. Ob die ursprünglich durchaus aufklärerische und seriöse Bewegung tatsächlich so tief gesunken war, oder ob hier Kollegenneid und -schelte aus Aristoteles spricht, kann ich auf die Schnelle nicht sagen. Ich müsste meinen Zeller mal wieder lesen …
Mehr und Interessanteres gibt es zu den Sophistischen Widerlegungen meiner Ansicht nach auch nicht zu sagen.
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen [Des Organon sechster Teil]. Neu übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eugen Rolfes. Leipzig: Felix Meiner, 1948. (= Unveränderter Abdruck der Auflage 1918)