Kleist war ein Dramatiker mit vielen Ecken und Kanten. Er ist es eigentlich auch heute noch, und bis heute stehen seine seltsamen Ecken und Kanten seiner Rezeption im Weg. Das gilt praktisch für jedes seiner Stücke, vor allem aber für die ganz frühen und die späten. Um so ein spätes, nämlich um Kleists letztes, handelt es sich beim Prinz Friedrich von Homburg. Vorwurf der Handlung ist ein historisches Ereignis, allerdings in einer von Friedrich dem Großen in die Welt gesetzten legendarischen Form.
Die Schlacht bei Fehrbellin hat es tatsächlich gegeben. Sie wurde im Rahmen des Schwedisch-Brandenburgischen Krieges 1675 ausgefochten und ist bis heute recht bekannt, war es doch (auch nach Einschätzung moderner Historiker, wenn ich das richtig sehe) diese Schlacht, die den definitiven Beginn markierte des Aufstiegs von Preußen zu einer europäischen Großmacht. Zum ersten Mal gelang es in dieser Schlacht nämlich dem preußischen Heer ohne fremde Hilfe einen Feind zu schlagen – und dann gleich die damalige Großmacht Schweden. Was historisch nicht stimmt, was Friedrich der Große in die Welt gesetzt hat, ist die Legende, dass Prinz Friedrich II. von Hessen-Homburg den Sieg in der Schlacht errungen habe, indem er sich in einem Akt der Insubordination über die Befehle seines Vorgesetzten, des Brandenburger Kurfürsten Friedrich Wilhelm, hinweg gesetzt hätte.
Auf dieser Legende aber basiert Kleists Drama. Schließlich passt sie sehr gut zu seiner Intention, ein patriotisch-preußisches Stück zu schreiben, in dem seine Heimat verherrlicht wurde, wie er dachte. Vielleicht etwas naiv dedizierte er das Stück sogar offiziell der Prinzessin Marianne von Preußen, ihres Zeichens Schwägerin von Friedrich Wilhelm III. und eine geborene Hessen-Homburg, somit Nachfahrin des Prinzen Friedrich. Hätte sich Kleist einfach an die Legende Friedrichs des Grossen gehalten, so hätte er wohl auch Gefallen am Hof gefunden mit seinem Drama. Aber er kann nicht anders und malt sie ein wenig aus. Daran wäre im Prinzip nichts auszusetzen gewesen. Aber wie er sie ausmalt! Sein Prinz von Homburg ist eine Figur, wie sie damals und heute nur in einem Kleist’schen Drama vorkommen konnte: Zunächst wird er uns als – Schlafwandler vorgestellt, der von einem Siegeskranz in der kommenden Schlacht träumt. Schon das hätte wohl genügt, die Prinzessin Marianne aufs Heftigste zu erbosen, aber Kleist setzt noch einen drauf. Kurfürst Friedrich Wilhelm ertappt ihn bei seiner somnambulen Tätigkeit und windet zum Spaß eine goldene Kette in den von Homburg sich selber geflochtenen Lorbeerkranz. Ein Kurfürst, der sich über seine Untergebenen in dieser Art lustig macht, war auch nicht dazu angetan, sich beim preußischen Hof von 1810 einzuschmeicheln. Aber damit immer noch nicht genug. Es geht zunächst einigermaßen harmlos weiter. Homburg wird – und das war wohl in Kleists Augen der Kern des Dramas – trotz des Sieges wegen Insubordination angeklagt und zum Tode verurteilt. Anders als er es erhoffte, unternimmt der Kurfürst keinerlei Anstalten, ihn zu begnadigen. Das Drama mündet im Folgenden in eine Diskussion um Pflicht und Gehorsam in der (preußischen) Armee, was wahrscheinlich am Hof durchgegangen wäre. Vorher aber erleben wir einen Prinzen von Homburg, der seine Geliebte Natalie, die Nichte des Kurfürsten, anfleht, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um dieses Todesurteil von ihm zu nehmen, weil er – sein bereits ausgehobenes Grab gesehen hat und nun in Todesangst zerfließt. (Er wird sich wieder herstellen, und so folgt später die Diskussion mit dem Kurfürsten um die moralische Berechtigung des Urteils, auch aus Homburgs Sicht.) Dass der preußische Hof, dass Prinzessin Marianne, goûtieren könnten, wie einer ihrer Vorfahren gezeigt wird, der sich aus Todesangst beinahe einnässt, konnte wohl nur Kleist Naivität entspringen.
Ein Drama, in dem einer der Beteiligten für kurze Zeit die Kontrolle über sich selber verliert. Die ursprünglichen Verhältnisse können nur wieder hergestellt werden, weil Homburg sich bei seinen Offiziers-Kameraden versichert: Nein, sagt! Ist es ein Traum? und sie ihm antworten: Ein Traum, was sonst? Das ist nicht nur Calderóns La vida es sueño. Das weist auch schon voraus auf Grillparzers Der Traum ein Leben. In seiner Mischung aus Komödie und Tragödie weist das Stück weit über Kleists Epoche hinaus. Im 21. Jahrhundert könnte man so etwas wohl aufführen – heute aber steht einer solchen Aufführung im Weg, dass der zentrale Punkt, die Diskussion um die Berechtigung des Todesurteils über den Sieger von Fehrbellin, als veraltet und uninteressant gelten muss.
Schade um viele schöne Teile in diesem Stück ist es aber schon.
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