Nicolas Boileau: Satires, Epîtres, Art poétique

Vor einem schweren, blaugoldenen Vorhang der Kopf eines Mannes mit Allonge-Perücke, der uns anblickt. (Es handelt sich um einen für das Buchcover verwendeten Ausschnitt aus dem Portrait Boileaus von Jean-Baptiste Santerre, 1678, das sich heute im Musée des Beaux-Arts in Lyon befindet.)

Nicolas Boileau ist im deutschen Sprachraum nicht unbedingt bekannt. Dabei gehörte er seinerzeit zur literarischen Gruppe der „quatre amis“, der vier Freunde1). Das war eine Gruppe von Autoren, die sich zu Beginn der eigentlichen Regierung des Sonnenkönigs Louis XIV2) in den Kopf gesetzt hatten, die französische Literatur recht eigentlich aufzumischen. Die vier, das waren neben Boileau noch Molière, La Fontaine und Racine. Schon nach einem Jahr desertierte Molière und ging zum ‚Feind‘ über (will hauptsächlich sagen: Corneille), die anderen drei aber hielten zusammen und hielten auch durch – bis sie die zu jener Zeit wichtige Anerkennung durch den Sonnenkönig erhalten hatten. Vor allem Boileau war es dann auch, der die so genannte „Querelle des anciens et des modernes“ vom Zaun brach, den Streit zwischen den Autoren, die sich an der Antike orientierten und jenen, die der Meinung waren, Frankreich sei unterdessen selbständig genug, um nicht ständig zurück schielen zu müssen. Der Streit entschied sich zeitgenössisch für die „Modernen“, selbst Boileau gab schließlich klein bei. (Aus heutiger Sicht ist es aber interessant, dass von den Namen der Beteiligten eigentlich nur die der – „Alten“ die Jahrhunderte überlebt haben …) Boileau und Racine vor allem machten Karriere und wurden endlich zu Historiographen des Königs ernannt, was bedeutete, dass sie ihn auf seinen (nicht gerade seltenen) Kriegszügen zu begleiten und darüber jeder einen Bericht zu verfassen hatte. Beide taten dies pflichtbewusst. Leider sind ihre Berichte bei einem Brand verloren gegangen. Leider deshalb, weil dieser Job sie voll und ganz in Anspruch nahm und wir so keine anderen literarischen Zeugnisse von ihnen aus dieser Zeit besitzen. Später sollte allerdings eine Entfremdung zwischen Louis XIV und seinen beiden Star-Autoren stattfinden. Aus machtpolitischen Gründen wollte der König die jansenistische Bewegung in Frankreich unterdrücken; beide, Boileau wie Racine aber fanden im Alter zu ihren jansenistischen Ursprüngen zurück. Boileau schrieb eine Satire gegen den Hauptgegner der Jansenisten, die Jesuiten, blieb aber offenbar relativ unbehelligt. Racine hingegen verlor alle seine königlichen Privilegien, damit auch sein ganzes Einkommen und verbrachte seine letzten Jahre in Armut.

Die Auswahlausgabe, die ich gelesen habe3), enthält „Satiren“, „Episteln“ und Boileaus Poetik. Der Herausgeber dieser Ausgabe unterteilt Boileaus Leben in drei Schaffensperioden und bringt aus jeder dieser Perioden je ein wichtiges Beispiel. Das geht deswegen nicht ganz auf, wie er zugeben muss, weil Boileau Zeit seines Lebens an bereits veröffentlichten Texten weitergefeilt hat und zum Beispiel bis ins Alter weitere Satiren zu den im jugendlichen Überschwang gedichteten hinzufügte. Es handelt sich bei den meisten Satiren um so genannte Personalsatiren. Diese sind sie heute schwierig zu verstehen, weil einerseits Boileau diese Satiren nicht nur anonym veröffentlichte sondern auch das anvisierte Ziel anonymisierte. Und selbst wenn man den Autor identifizieren kann, auf den gezielt wurde: Es sind alles Namen, die nur noch Spezialisierten geläufig sind. Ähnliches gilt für die Episteln. Darunter versteht man im französischen Sprachraum nicht ganz das, was wir heute im Deutschen damit meinen. Es sind keine biblisch-religiösen Texte, sondern öffentliche Sendschreiben (meist an bekannte Persönlichkeiten) zu einem spezifischen Thema. Auch für Boileaus Episteln gilt, was ich zu seinen Satiren gesagt habe: Themen wie Persönlichkeiten sind vor allem den Spezialisierten zugänglich. Am interessantesten – für mich – ist sicher seine Art poétique, seine Poetologie. Boileau formuliert hier, nicht als erster, aber nun regelbildend für den gesamten französischen Klassizismus, ja regelbildend bis ins 19. Jahrhundert hinein, an Hand seiner Interpretation der aristotelischen Poetik, den Kanon der drei Einheiten, die ein Drama einzuhalten habe – Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. Konkret führte die Einhaltung dieser Regeln oft dazu, dass als Ort das Vorzimmer eines Königs gewählt wurde (weil man da zwanglos alle Handelnden auf- und abtreten lassen konnte), die Einheit der Zeit einfachheitshalber als Zeitraum von maximal 24 Stunden aufgefasst wurde und in der Handlung alle Nebenstränge gekappt – was vor allem den Zwischenspielen des Narren galt, die bislang gang und gäbe gewesen waren. Und auch wenn heute diese drei Einheiten selbst im französischen Drama nicht mehr eingehalten werden, so ist doch Boileau in hohem Maße verantwortlich dafür, dass unsere westlichen Nachbarn noch im 21. Jahrhundert so wenig mit Shakespeare anzufangen wissen.

Zum Schluss bleibt die Frage: Muss man als Nicht-Franzose, Nicht-Französin, Boileau heute gelesen haben? Sagen wir es so: Es kann auf jeden Fall nicht schaden.


1) Ich weiss nicht, wie sehr sich – und wenn auch nur im Verteckten – Dumas Père bei seinen Drei Musketieren oder gar Enid Blyton bei ihren Fünf Freunden von diesen „Vier Freunden“ hier haben beeinflussen lassen …

2) Nämlich, als er tatsächlich selber bestimmen konnte und nicht andere Leute im Namen des noch Minderjährigen regierten …

3) Nicolas Boileau: Satires, Epîtres, Art poétique. Édition présentée, établie et annotée par Jean-Pierre Collinet. Paris: Gallimard, 2021 [erstmals 1985]. (= nrf, collection poésie)

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