Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Und andere Essays

Etwa zwei Drittel der Höhe und drei Viertel der Breite nimmt oben links ein orange-farbenes Rechteck ein. Das restliche Viertel zeigt einen Ausschnitt aus einer in Grüntöne umgefärbten Schwarz-Weiß-Portrait-Fotografie von Thoreau. Wir sehen nur Mund, Kinn und Bart. Das untere Drittel des Bildes ist zur Gänze grau. Darin kann man einen Teil des Titels des Buchs lesen: "Über die Pflicht". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Ungeachtet der diesem Aperçu angefügten Schlagwörter tut man Henry David Thoreau Unrecht, wenn man ihn als staatspolitischen Philosophen betrachtet. Ein staatspolitischer Denker: Ja. Ein Philosoph: Nein. Denn nicht jeder Denker denkt philosophisch. Und Thoreau dachte ganz sicher nicht philosophisch, so wenig wie noch alle, die je politisierten. Das vor mir liegende Büchlein ist 2001 bei der Büchergilde erschienen. Es enthält drei politische Aufsätze Thoreaus:

  • Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat [in der Übersetzung von Walter E. Richartz]
  • Leben ohne Grundsätze [übersetzt von Peter Kleinhempel]
  • Vom Gehen [ebenfalls von Kleinhempel übersetzt]

Die ersten beiden Aufsätze haben wir hier schon einmal je separat besprochen, der dritte gleicht ihnen trotz seines Titels, denn Thoreau geht(!) auch in diesem Aufsatz vom Lob des Gehens als der idealsten Fortbewegungsart über zu politischen Themen. Es sind alle drei im Grunde genommen Hymnen an die Selbständigkeit des Einzelnen, der ohne große Bedürfnisse leben kann. Leben kann und – wichtig in allen drei Aufsätzen – leben lassen kann. Nicht nur in der Natur, sondern auch in der Gesellschaft. Thoreau war militanter Abolitionist – Gegner der Sklavenhaltung, Gegner auch der Politik des Staates Massachusetts, der zwar selber keine Sklavenhaltung tolerierte, aber entlaufene Sklaven gerichtlich wieder zu ihrem Herren zurück expedierte. Als Gegner einer solchen Politik des Staates entwickelte sich Thoreau auch zum Gegner des Staates an sich.

Und da geschieht etwas Bemerkenswertes: Thoreau, der eben gerade kein philosophischer Denker war, unterläuft ein riesiger Denkfehler. In seinen Aufsätzen (die inhaltlich übrigens sehr ungeordnet sind und auch rhetorisch katastrophal) wettert er gegen den Staat, predigt eine völlige Unabhängigkeit des Individuums von staatlichen Institutionen. Man kann das als Anarchismus sehen (und Manfred Allié in seinem Nachwort meiner bei der doch linken Büchergilde erschienen Ausgabe diskutiert die Frage, kommt aber dann zu einer diesbezüglich eher verneinenden Einschätzung der Haltung von Thoreau), aber seine Argumente könnten genau so gut von einem Anhänger eines radikalen Libertarismus stammen. Dem, was er zum Beispiel über den Staat und die Zeitungen, die die Sklavenhaltung unterstützen, sagt, wird jeder rechtschaffene Mensch im ersten Moment zustimmen. Wenn man aber genauer liest, merkt man, dass Thoreau in seinem Angriff maßlos geworden ist. (Was damit zusammenhängt, dass sie immer ad hoc verfasst wurden, gar nicht für eine literarische Ewigkeit gemeint waren.) Er geht davon aus, dass seine Angriffe nur von ‚guten‘ Menschen gelesen und angewendet würden. (Das war ja in der Praxis auch das Publikum, vor dem er sprach.) Es existiert für ihn eine moralische Steuerung, die einen Missbrauch seiner Gedanken verhindert. Denn es gibt Sätze, ja ganze Abschnitte, die man aus dem Zusammenhang nehmen könnte, und die dann in dieser Form nicht unterschieden werden können von den Angriffen, die aktuell von der extremen Rechten gegen Staat und Journalismus gefahren werden (vor allem Thoreaus Heimat, die USA, haben unterdessen dafür eine traurige Berühmtheit erreicht).

Thoreau ist nicht der einzige Schuldige an der gegenwärtigen ‚Fake News‘-Bewegung. Aber er ist eine von deren Wurzeln. Über ihn sind solche Gedanken in den Transzendentalismus geflossen, der in seinem spätromantischen Idealismus ebenfalls das Wahre-Schöne-Gute im Menschen voraussetzt. In der intellektuellen Atmosphäre des Transzendentalismus wuchsen dann ja auch ein Charles S. Pierce auf und ein William James, und vor allem aus Pierce’ Spätphilosophie, dem Pragmatizismus, schwappte dieses Denken, diese unreflektierte Voraussetzung eines Wahren-Guten-Schönen im Intellekt eines jeden Menschen, nach Europa über, wo Apel und Habermas daraus die Transzendentalpragmatik entwickelten, die glaubte, dass sich in der Auseinandersetzung der Denkenden von selber ein Konsens entwickeln würde, der dann auch der ‚Wahrheit‘ entspräche. Dass die ethische Grundausstattung der wenigsten Menschen dies erlauben könnte, wurde ausgeblendet.

Fazit: Thoreaus politische Gedanken gehören gelesen – aber nur ausgerüstet mit Feuerzange und Asbest-Handschuhen.

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