Friedrich Dürrenmatt: Romulus der Große

Links und rechts ein gelber Theatervorhang. In der Mitte, vor schwarzem Hintergrund, der stark stilisierte Kopf eines Mannes, der nachdenklich eben diesen mit der Hand abstützt. Im gewählten Ausschnitt befinden sich die Nase, der halb geöffnete Mund und zwei Fingerspitzen einer gelben Hand.

Meine erste Begegnung mit Dürrenmatt hatte ich mit 13 oder 14. In unserem Schullesebuch war eine Kurzgeschichte von ihm abgedruckt, Der Tunnel. Schon damals las ich mehr und anderes, als was der Unterricht von uns verlangte. So stieß ich auch auf diese Kurzgeschichte, die mich dann doch ein bisschen verstörte. Nun kam unser Deutschlehrer eines Tages auf die – eigentlich gute – Idee, uns zu fragen, ob es denn in diesem Lesebuch etwas gäbe, von dem wir möchten, dass es zusammen gelesen würde. Ich weiß nicht mehr, ob ich der einzige war, der Antwort gab, jedenfalls wünschte ich mir den Tunnel, in der Hoffnung, unser Lehrer könnte mir Hinweise geben, wie ich diese Geschichte zu verstehen hätte. Ob es nun von Anfang an von ihm so geplant war, oder er in seiner Not so handelte, weil er selber auch nicht wusste, was dazu sagen: Wir haben die Geschichte zusammen gelesen. Einander in der Klasse laut vorgelesen. Dann haben wir das Buch zugeklappt und sind zu anderem übergegangen …

Dürrenmatt, bin ich heute überzeugt, hätte seine Freude an dieser Szene gehabt.

Vor mir liegt ein Band mit Dramen von Dürrenmatt, der sich Komödien I nennt, 1974 bei ExLibris (damals noch ein Buchklub mit Ambitionen) als Lizenzausgabe des Verlags Die Arche erschienen. Ich hatte mir den seinerzeit als Student gekauft, nicht aber den später erschienen Band II. Den brachte dann meine Freundin, spätere Frau, mit in die gemeinsame Wohnung. Als sie sich dann von mir trennte, trennte sie sich auch von ihren Büchern, die als Scheidungswaisen bei mir blieben. Da ich den Anblick ihrer Bücher nicht ertragen konnte, habe ich Band II gleich zusammen mit Band I weggegeben.

Dürrenmatt, bin ich heute überzeugt, hätte seine Freude an dieser Szene gehabt.

Während ich einiges von dem damals Weggegebenen später in ‚neutralen‘ Ausgaben wieder gekauft habe, reizte mich Dürrenmatt nicht. Jahrzehnte lang nicht. Dann aber stolperte ich neulich in der Grabbelkiste des Antiquars meines Vertrauens über dieses Buch, dessen Umschlag ich auch nach Jahrzehnten bloß vom Rücken her sofort wieder erkannte. Neugierig, ob das eventuell sogar das identische Buch von damals sein könnte, zog ich es aus der Kiste. War es natürlich nicht. Aber: Auf dem Schmutzblatt stand in noch recht kindlicher Schrift, in blauer Schulfüller-Tinte, der Name meiner Cousine und eine Nummer, die eindeutig eine Schulklasse identifizieren sollte. Ich habe das Buch gekauft.

Dürrenmatt, bin ich heute überzeugt, hätte seine Freude an dieser Szene gehabt.

Das Buch enthält vier Komödien Dürrenmatts – wobei dieser den Ausdruck ‚Komödie‘ in einem sehr eigenen Sinn fasste. Diesbezüglich war er von Brecht beeinflusst, nur dass er – anders als der Berliner – in seinen Stücken keine Ideologie propagieren wollte. Ich hätte nun den ebenfalls enthaltenen Besuch der alten Dame vornehmen können, aber wenn ich das richtig sehe, wird diese arme alte Dame nach wie vor in den Schulen gequält. Also entschied ich mich für das kaum noch bekannte Romulus der Große.

Dürrenmatts Schicksal war es, schon zu Lebzeiten (wie Frisch, wie Böll, wie Grass – um nur die Bekanntesten zu nennen) zur Schullektüre erklärt zu werden. Ich halte das für ein kolossales Missverständnis, denn anders als bei Frisch-Böll-Grass liegt die Moral von der Geschicht’ bei Dürrenmatt keineswegs so deutlich zu Tage. Es war kein Zufall, dass Dürrenmatt einmal geplant hatte, eine Dissertation über Kierkegaard zu schreiben (kein Zufall allerdings auch, dass er den Plan aufgab, bevor er eine einzige Zeile geschrieben hatte).

Denn in Dürrenmatt steckt nicht nur sehr viel Philosophie sondern vor allem auch sehr, sehr viel Theologie. Allerdings möchte ich seine Theologie eine negative Theologie nennen. Das zeigt sich sehr schön im vorliegenden Stück. Romulus, der letzte Kaiser Roms, versucht in Dürrenmatts Stück aktiv (nämlich indem er ganz passiv das Regieren verweigert), das Römische Reich in den Untergang zu führen und es als Bestrafung für seine über die Jahrhunderte begangenen Bluttaten den Germanen zum Fraß vorzuwerfen. Eine Art negativer Erlösung, in der sich Romulus, ohne ihn zu nennen, als eine Art negativer Christus sieht, der den Untergang des Römischen Reichs mit dem eigenen Tod besiegelt. Schon das beinhaltet in vieler Hinsicht eine negative Theologie, aber Dürrenmatt bleibt hier nicht stehen. Nachdem Romulus zu Beginn beim Publikum keineswegs einen positiven Eindruck erweckt, gelingt es ihm doch, uns zu beeindrucken, als er seinen oben skizzierten Plan aufdeckt. Doch dann ändert sich alles, und Romulus wird zu einer wahrlich tragikomischen Figur. Odoaker, der Germane, erscheint in Rom und später auch auf dem Landsitz des Kaisers. Und es zeigt sich, dass Odoaker ebenso genug vom Krieg und dem Abschlachten von Menschen hat wie Romulus. Er weiß, dass er, wenn er diesen Krieg hier gewinnt, zum König von Italien wird; er ahnt aber auch, dass sein Neffe*) Theoderich unter germanischen Vorzeichen genau die gleichen Gräueltaten wiederholen wird wie das eben zerstörte Römische Reich. Wie immer sich die beiden entscheiden: Die Welt wird dadurch nicht besser, wie jeder der beiden gehofft hatte. Sie wird auch nicht schlechter. Vielleicht ein bisschen, aber im Grunde genommen bleibt sie so schlecht, wie sie schon seit je ist. Der Mensch denkt, aber keiner lenkt.

Zum Schluss muss Romulus als pensionierter Kaiser damit leben, dass durch seinen gescheiterten Plan nicht nur über das Römische Reich noch mehr Blut gekommen ist, sondern auch damit, dass er seine ganze Familie, seine über alles geliebte Tochter vor allem, dabei verloren hat.

Anders als bei der stark im Zeitgenössischen verankerten ‚Moral‘ von Frisch-Böll-Grass ist die ‚negative Theologie‘ Dürrenmatts auch im 21. Jahrhundert noch aktuell, wie ich finde.


*) Dürrenmatt geht mit seinen an und für sich historischen Figuren sehr frei um. Romulus (in Tat und Wahrheit eine Marionette seines Vaters und knappe 15 Jahre alt – er wurde auf Grund seiner Jugend von Odoaker verschont) ist im Stück ein Mittfünfziger, der schon zwanzig Jahre lang regiert hat (oder eben nicht), und Odoaker war in der Realität keineswegs mit Theoderich verwandt. Last but not least: Der von mir oben nicht erwähnte, ebenfalls erscheinende Kaiser Ostroms, den Dürrenmatt als Zeno von Isaurien auftreten und bei Romulus Asyl suchen lässt, weil er gerade gestürzt worden war, lebte zwar eine Zeitlang im Exil. Aber das war vor der Eroberung Roms durch die Germanen, auch betrat er Westrom dabei gar nicht. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Westreichs war Flavius Zeno bereits wieder Kaiser von Ostrom, da er seinen Vertreiber seinerseits zu vertreiben vermochte.

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