Cannery Row war ursprünglich der Spitzname der Ocean View Avenue im kalifornischen Küstenstädtchen Monterey. Sie erhielt den Namen wegen der vielen Fischfabriken, die sich entlang dieser Straße niedergelassen hatten, die erste davon bereits 1895. Zu dieser Zeit, und bis ungefähr 1950 war Monterey das Zentrum der kalifornischen Küstenfischerei, und was lag näher, als die Fisch-verarbeitende Industrie gleich dort anzusiedeln, wo die Fische angeliefert wurden – an der Straße zum Hafen von Monterey. Das Ganze war denn auch sehr erfolgreich – allzu erfolgreich, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausstellte. Man hatte das Meer überfischt und die ganze Industrie brach zusammen. Heute fischen dort nur noch ein paar Private. Das Meer selber wurde unter Schutz gestellt. Nach dem Zusammenbruch und einer schweren wirtschaftlichen Krise ab den 1960ern gelang es Monterey aber, sich neu zu erfinden. Statt nach Sardinen fischt man dort nun nach Tourist:innen; aus den Industriegebäuden wurden zum Teil Museen (so auch Docs Haus), zum großen Teil verwandelte man sie aber in überteuerte Cafés und Souvenir-Shops. Das war schon der Fall vor dreißig Jahren, als ich die Cannery Row besuchte. Seit langem ist der Spitzname übrigens zum offiziellen Namen der Straße zum Hafen geworden.
Den wirtschaftlichen Wiederaufschwung verdankte die Straße, verdankte die Stadt, einem einzigen Mann und einem einzigen Buch (na ja, vielleicht deren drei). Und dieser Mann ist nicht R. L. Stevenson, der sich bei seinem Aufenthalt in Kalifornien in Monterey niederließ (was auch in der Straße der Ölsardinen neckisch erwähnt wird), sondern John Steinbeck mit eben dieser Straße der Ölsardinen, wie sein Buch Cannery Row von 1945 auf Deutsch heißt. Während Früchte des Zorns und Jenseits von Eden vom Feuilleton hoch gelobt wurden und ihm den Pulitzerpreis sowie den Literatur-Nobelpreis eintrugen, wurde Die Straße der Ölsardinen zusammen mit Tortilla Flat zum Publikumsliebling. Letzteres ist dann auch das zweite der drei Bücher, die Monterey berühmt gemacht haben. Es hat aber – außer dem gleichen Ort der Handlung und der Erwähnung der Fisch-Fabriken – keinen direkten Zusammenhang mit der Straße der Ölsardinen. Anders ist es mit dem dritten Buch im Bunde, Wonniger Donnerstag (im Original: Sweet Thursday), das noch einmal auf das Personal der Straße der Ölsardinen zurückgreift. Allen drei Büchern ist es gemeinsam, dass in nur locker zusammenhängenden episodenhaften Kapiteln humoristische Erzählungen aus dem Leben der ärmeren Bevölkerung Montereys gegeben werden.
So besteht auch das Personal hier aus armen Außenseitern der Gesellschaft, aus Menschen, mit denen die ‚anständigen Leute‘ nichts zu tun haben wollen. Da sind Mack und seine Truppe, zu Beginn des Roman obdachlose Streuner (später werden sie sich ein Haus erschwindeln) und, wie die ‚anständigen Leute‘ sagen würden, arbeitsscheu. Sie stellen die Picaros des Romans dar, und ähneln in vieler Hinsicht den Paisanos aus dem fünfzehn Jahre älteren Roman Tortilla Flat – übermäßigen Alkoholkonsum inbegriffen. (Wobei diese Picaros hier lieber stärkere Getränke zu sich nehmen als Wein.) Dann ist da Dora Flood, Betreiberin und Inhaberin eines Bordells. Steinbeck fand bekanntlich an der Prostitution nichts Anrüchiges; dementsprechend ist Dora denn auch zumindest bei den Außenseitern der Cannery Row höchst angesehen und ihre Mädchen ebenso. Als unter den Kindern der Fabrikarbeiter eine Seuche ausbricht, die die pflegenden Eltern an den Rand des Zusammenbruchs bringt, organisiert Dora ihre Mädchen, die sich alle freiwillig melden, die Eltern bei der Pflege der Kinder abzulösen. Das Bordell wird keineswegs geschlossen – es wird ein genauer Plan ausgearbeitet, wer wann wo eingesetzt ist. Weiter finden wir den Chinesen Lee Chong, der den Gemischtwarenladen beim Hafen führt. Er gibt seine Ware auch schon mal auf Kredit her, treibt seine Schuldner aber nie zu Rückzahlungen an. Nur wenn ihn die Höhe der Schuld dann doch etwas bedeutend dünkt, sperrt er allen weiteren Kredit. Da sein Laden alles führt und er auch alles sehr billig hergibt, beeilen sich die Schuldner dann, zumindest eine Anzahlung zu leisten.
Es gibt für all diese Charaktere (und weitere, die ich jetzt nicht aufführe) Vorbilder in der Realität. Wirklich wichtig ist aber nur das Vorbild für Doc. Doc ist im Grunde genommen die Hauptfigur des Roman. Er ist Meeresbiologe. Er führt und repräsentiert als Alleininhaber und einziger Mitarbeiter eine Firma mit dem Namen Western Biological Laboratories, die sich damit beschäftigt, für Universitäten und Liebhaber-Shops Meerestiere zu fangen und zu präparieren. Seine Arbeit wird weit herum gesucht, denn er ist der Beste darin. Sein Vorbild ist Ed Ricketts, dem Steinbeck sein Buch auch gewidmet hat. Mit ihm verband den Schriftsteller eine Freundschaft, und wir haben seinen Namen schon einmal genannt: Er war der Wissenschaftler, mit dem Steinbeck 1940 auf jene maritime Sammeltour ging, von der er später unter dem Titel The Log from the Sea of Cortez berichten sollte.
Man hat Steinbeck vorgeworfen, das Leben der armen Bevölkerung Montereys schönfärberisch geschildert zu haben. Das stimmt zum Teil und ist auch biografisch zu erklären. Als der Autor Cannery Row verfasste, war er bereits bekannt und einigermaßen wohlhabend geworden. Die Zeit, als er sich selber als armer Student in Monterey herumtreiben konnte, war vorbei. Er wusste, käme er nun in die Cannery Row, würde er von den dort Ansässigen nicht mehr als ihresgleichen akzeptiert. Nostalgie kann den Blick verklären. Aber auf der anderen Seite stellt sich auch die Frage, weshalb das Schicksal von nicht so reichen Leute immer als ein trauriges dargestellt werden muss (was Steinbeck in seinen preisgekrönten Romanen ja auch getan hat). Auch solche Leute haben ihre fröhlichen Momente und es gibt keinen moralisch-ethisch stichhaltigen Grund, weshalb Arbeit dem Nichtstun vorzuziehen ist, so lange dabei keine Drittpersonen zu Schaden kommen.
Man sieht: Ich mag Steinbecks leichten und episodenhaft aufgebauten Romane. Sie stellen, nebenbei gesagt, eine ideale Bettlektüre dar. Ohne ihr Publikum für dumm zu halten, erzählen sie humorvolle Geschichten. Und wenn einem die Augen zufallen wollen, kann man die Lektüre problemlos nach jedem Kapitel beenden.
Ich habe vor kurzem gelesen „Zwei Jahre vorm Mast“ von Richard Henry Dana (ich kam drauf, weil es in einem Nachwort zu einem der Aubrey/Maturin-Romane von Patrick O’Brien erwähnt wurde und es Tagebuch und Seefahrt verbindet, zwei meiner Lieblings-Genres). Dana legte das erste Buch über Seefahrt, geschrieben von einem Seemann vor (alle anderen wurden von Nicht-Seemännern geschrieben).
Ziel der Reise von Dana war Kalifornien, damals Teil von Mexico und fast menschenleer. Dana war ca. 1835 dort und der Goldrausch lag noch in der Zukunft. Das Schiff Danas lief dorthin aus, um Rinderhäute aufzunehmen, die die Bauern dort züchteten. Man fuhr 18 Monate die Küste rauf und runter, um Häute zu sammeln, abzuschaben, zu trocknen und zu falten und dann so zu verladen, dass das Schiff auf der Rückreise um Kap Hoorn nicht mal einen halben Meter Außenfreibord hatte. Und sie waren auch mehrmals im ganz kleinen, verschlafenen Monterey. Und wenn ich mich richtig erinnere, war in meiner Ausgabe sogar eine Zeichnung des Hafens von Monterey aus ca. 1830 enthalten.
Ick sach ja nur.