Writer in Residence: Jean D’Amérique – Zerrissene Sonne

Klassizistische Fassade aus grauem Sandstein. Verschiedene Torbogen in eine Arkade mit Portraits als Abschlüssen. In einem der Torbogen der Schriftzug "Literaturhaus". Eigene Fotografie.

Dieses Mal habe ich keine 4½ Jahre vergehen lassen vom Besuch einer Lesung bis zum Besuch der nächsten. Dafür war ich abermals im selben Literaturhaus Zürich und habe abermals eine Lesung französisch-karibischer Literatur gehört – genauer: abermals der haitianischen Literatur. Das Literaturhaus scheint sich dieser Literatur im Moment ganz besonders anzunehmen. Nicht nur ist es nicht die erste Lesung mit Autor:innen aus jener Weltgegend, dieses Mal hat es deren Vertreter sogar als Writer in Residence berufen. Es stand dieses Mal keine Frau vor dem Publikum sondern ein relativ junger Mann – Jean D’Amérique, dessen neuestes ins Deutsche übersetzte Werk Zerrissene Sonne ich hier kürzlich erst vorgestellt habe.

Aufgefallen ist mir damals bei der Lektüre die bilderreiche und rhythmische Sprache, die immer wieder in eine Art lyrischer Prosa kippte. Nun war ich gespannt, ob das Buch auch auf Französisch so klingt und ob bzw. wie der Autor – der ja auch als Rapper unterwegs ist – seinen eigenen Text lesen würde. Vielleicht gar als eine Art Rap?

Zunächst aber noch – analog zum letzten Lesungsbericht – ein Blick auf meine gastronomischen Erlebnisse. Dieses Mal war es nicht Street Food oder Fast Food – ich hatte ein Date. Ganz brav, mit meiner Frau, aber in einem ‚richtigen‘ Restaurant. Nichts Schicki-Micki, das Restaurant gehört offenbar zu einer größeren Kette – ein Asiate (chinesisch). Das Huhn meiner Frau schmeckte ihr sehr gut, meine Ente war auch nicht schlecht (ich habe aber bereut, nicht auch Huhn bestellt zu haben, ich habe ein Stück von dem meiner Frau versucht – es war besser als meine Ente). Leider entpuppte sich die Curry-Sauce als Industrieprodukt von jener Sorte, die einen noch stundenlang mit einem metallenen Nachgeschmack auf der Zunge und im Gaumen zurück lassen. Da ich dieses Mal nicht fußläufig vom Literaturhaus speiste, fuhr ich mit der Straßenbahn dorthin. So kam ich wenigstens in den Genuss, jene ganz neuen und modernen Kombinationen, die ich letztes Jahr nur von ferne bewundert hatte, auch einmal von innen zu betrachten. Im Übrigen war ich stolz auf mich: Bei meiner Fahrt durch Zürich kannte ich noch jede Ecke, obwohl ich seit ein paar Jahren kaum noch dort bin.

Dann also die Lesung. Die Bühne war im selben Stil aufgebaut wie letztes Mal und auch die Rollen der Anwesenden dort oben war dieselbe, wenn auch nicht alles dieselben Personen waren. Leider habe ich den Namen der französischen (? – jedenfalls frankophonen) Autorin nicht verstanden, die dieses Mal die Fragen an Jean D’Amérique stellte. Leider auch beharrte sie offenbar darauf, ihre französisch gestellten Fragen selber ins Deutsche zu übersetzen. Das unterbrach nicht nur jedes Mal den Diskussionsfluss, ihre sowieso leise Stimme, zusammen mit dem etwas radebrechenden Deutsch war eine Herausforderung jedenfalls – für mich. Jean D’Amérique wiederum entpuppte sich als recht schüchterner junger Mann. So ganz taute er erst zum Schluss auf, als er feststellen durfte, dass auch Mitglieder der haitischen Exil-Gemeinschaft im Saal anwesend waren.

Ich hatte schon im Vestibül kurz die französische Version des Romans (die ebenfalls auslag) mit meiner deutschen vergleichen können und so den Eindruck gewonnen, dass die Übersetzung Jean D’Amériques Sprache sehr gut getroffen hat. Die Qualität der Sprache Jean D’Amériques wurde mir auch im einleitenden Statement der französischen Autorin bestätigt, die noch anderes von ihm gelesen hatte (auf Französisch natürlich), diese Sprache in all seinen Werken vorfand und ganz ähnlich beschrieb, wie ich sie empfunden hatte.

Zwei Aspekte der Fragerunde haben mich speziell interessiert. Zum einen tauchte die Frage auf, warum Jean D’Amérique (offenbar nicht nur im Roman Zerrissene Sonne) eine (dieses Mal: sehr junge) Frau als Protagonistin und Ich-Erzählerin führt. Der von der Fragerin unterschwellig erwartete Antwort im Sinne einer Gleichberechtigung wich Jean D’Amérique dann allerdings aus, indem er ausführte, dass es ihm beim Schreiben vor allem darum gehe, Erwartungen zu enttäuschen. Er fange seine Geschichten immer aus dem Bauch an, um sie – immer noch aus dem Bauch – weiter zu spinnen und so das Unerwartete zu schreiben. Beim vorliegenden Roman habe er zum Beispiel zunächst mit Papa, dem Auftragsmörder, begonnen, dann aber habe Tête Fêlée quasi übernommen. Auch die lesbische Liebesgeschichte zwischen seiner Protagonistin und ihrer Schulkameradin sei etwas, was man in Port-au-Prince nicht erwarten könne. Letzten Endes vermittelte Jean D’Amérique den Eindruck, dass das Geschlecht seiner Hauptfiguren nur ephemer eine Rolle spielte – womit er den Versuch der fragenden Autorin, ihn zu einem Feministen alter Schule zu machen, elegant unterlief. Überhaupt scheint das der Hauptpunkt seiner Poetologie zu sein: das Überraschende, das die Sprache dem Autor liefert, wenn sie aus dem Bauch kommt – womit zugleich dann ein neuer, anderer Blick auf die Realität gegeben ist. Ein interessanter Ansatz, den er leider nicht vertiefen konnte in der kurzen Zeit, die ihm gegeben war.

Natürlich las er noch einen kurzen Ausschnitt aus seinem Roman. Zunächst klang er etwas monoton, war wohl auch gehemmt. Nun, die wenigsten Autor:innen lesen gut. Nachdem er sich aber warm gelesen hatte, war tatsächlich auch seiner Prosa ein gewisser Rap-Rhythmus anzuhören. Noch stärker machte sich der bemerkbar, als er eines seiner französischen Gedichte vortrug, und am stärksten dann, als er – auf Wunsch der haitianischen Anwesenden – ein Gedicht auf Kreolisch vortrug.

Der Autor hat mir am Ende der Veranstaltung eine wunderschöne Widmung in mein Exemplar geschrieben. Auf die Frage, ob der Verlag Litradukt, in dem Zerrissene Sonne letztes Jahr erschienen ist, weitere Veröffentlichungen von seinen Werken plant, konnte er mir aber keine Auskunft geben. Natürlich muss gerade ein kleiner Verlag mit seinen finanziellen und persönlichen Ressourcen haushalten, aber es wäre schon schade, wenn Jean D’Amérique nicht mehr berücksichtigt werden könnte, wie ich finde.

Schließlich fuhr ich – dieses Mal mit einem älteren Straßenbahn-Modell – literarisch und gastronomisch gesättigt zum Bahnhof und von dort nach Hause.

PS. Steiner war da. Wo war Tingler?

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 2

1 Reply to “Writer in Residence: Jean D’Amérique – Zerrissene Sonne”

  1. Pingback: Jean D' Amérique

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert