N. Hinterberger: Der Kritische Rationalismus und seine antirealistischen Gegner

Ein etwas seltsames Buch. Hinterberger orientiert sich seinen eigenen Worten zufolge sehr stark am von mir hochgelobten Buch Musgraves „Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus“, eine Orientierung, an der es – der Qualität des Buches wegen – an und für sich nichts auszusetzen gibt. Allerdings erwartet man sich dann doch mehr als ein bloßes Paraphrasieren, ein Umschreiben dessen, was Musgrave eingängig und präzise dargestellt hat. Hinterberger bleibt aber hinter seinem Vorbild zurück und weiß wenig neue Gedanken zu den erkenntnistheoretischen Problemen beizutragen, sodass man über weite Teile des Buches mit dem musgraveschen Original sehr viel besser bedient ist.Außerdem scheint er ein allzu höriger Popper-Schüler zu sein und versucht die trial-error-Methode unter allen Umständen und in allen nur möglichen Konstellationen verwirklicht zu sehen. So geht es ihm bei der Kritik der Evolutionären Erkenntnistheorie vor allem darum, dass wir aus induktiven Beobachtungen nicht lernen können, sondern immer schon eine bestimmte Erwartungshaltung (= Theorie) haben, die dann möglicherweise im nachfolgenden Verhalten falsifiziert wird. Dies geht so weit, dass er auch Einzellern ein solch hypothetisch-deduktives Verhalten unterstellt (hingegen nicht den Vorgängen auf der molekularen Ebene), wobei das Ganze ein wenig erquicklicher Streit um bloße Definitionen zu sein scheint. Denn es ist von der Begriffsbestimmung abhängig, was denn nun als Hypothese bezeichnet werden kann: Üblicherweise ist im gängigen Sprachgebrauch damit eine Form von „Selbst-Bewusstsein“ verbunden, sodass sich das Subjekt dieser seine Hypothese bewusst ist, ein bestimmtes Verhalten in seiner Umwelt vorauszusehen glaubt und dementsprechend handelt. Wenn man nun davon abgeht und einem Einzeller, der auf der Nahrungssuche immer dann die Richtung ändert, wenn sich in der vorhergehenden Richtung wenig Nahrung finden lässt, auch hypothetisch-deduktives Verhalten unterstellt, so ist dies legitim. Wobei die Grenzziehung zur molekularen Ebene sehr viel problematischer ist als Hinterberger annimmt: Denn auch „Leben“ ist eine reine Definitionsfrage und daher auch das „Verhalten“ von Molekülverbänden ein möglicherweise „gerichtetes“. Außerdem wird man kaum angeben können, wo genau dieser Übergang stattzufinden hat. Aber es ist legitim nur insofern, als dass es jedem freisteht, seine eigenen Definitionen entsprechend zu wählen. Über die Wirklichkeit wird damit allerdings nichts ausgesagt (sonst wäre der ontologische Gottesbeweis gelungen).

Dann behandelt Hinterberger Kants Darstellung der Mathematik als einer nicht analytischen, synthetisch-apriorischen Wissenschaft, die ihre Ursache in der Absicht hat, die synthetischen Voraussetzungen der Mathematik (die Gewissheit verbürgen sollen) auf jene der Physik zu übertragen. Aber weder ist die Mathematik ein rein synthetisches Gebilde, noch können ihre Sätze immer Sicherheit garantieren (außer in Tautologien, die aber dann anerkannt analytisch sind und somit nichts über die Wirklichkeit, auch nicht über die Physik, aussagen können). Hinterberger stimmt der Darstellung synthetischer mathematischer Erkenntnisse a priori zu, indem er das von Kant angeführte Beispiel 7 + 5 = 12 übernimmt. Kant argumentierte, dass den einzelnen Zahlen ihre schließliche Summe nicht angesehen werden könne und daher diese Berechnung synthetisch sei, hingegen hat schon Frege zu Recht diese Behauptung kritisiert und durch Zurückführung auf den Zahlenbegriff als analytisch ausgewiesen (in Frege: „Funktion, Begriff, Bedeutung“. Fünf logische Studien insbesondere Kapitel 2: Funktion und Begriff)*.

In vielen weiteren Passagen referiert Hinterberger dann wieder Musgrave (oder auch Albert), ohne deren zitierten Werken etwas substantiell Neues hinzufügen. Oder verrennt sich in seltsame Argumentationsweisen, wie etwa bei der Kritik von Bartleys „Panrationalismus“ (der, nebenbei bemerkt, niemanden hinter seinem philosophischen Ofen hervorzulocken pflegt: Ist er doch allzu sehr konstruiert). Bartley referiert Ayers Stellungnahme, „dass es unmöglich sei, rationale Standards als irrational zu bezeichnen, weil sie erst die Standards setzen, auf welchen jedes derartige Urteil beruhen müsste“. Hier schließt Hinterberger, dass dies eine Tautologie sei in der Form „rationale Standards sind nicht irrational, weil sie rational sind“. Ayer spricht aber vom Entschluss (bzw. von der Entscheidung), solche rationale Standards zu benützen und nicht davon, dass die Standards selbst irrational sind. Die Verwirrung entsteht durch eine (verborgene?) Metaebene: Ayer kann selbstverständlich über rationale Standards nur befinden, indem er selbst solche (gleiche?) Standards benutzt, aber er macht eine Aussage über die Verwendung dieser Standards. Und bedient sich auf der metasprachlichen Ebene rationaler Standards. Keinesfalls aber involviert Ayers Aussage eine Tautologie (wie von Hinterberger moniert). (Im übrigen ist seine sonstige Kritik an Bartley berechtigt; denn wie Popper selbst feststellte, werden seine Ideen durch seine eigenen Ideen kritisiert – und bei Bartley trifft das tatsächlich zu.)

In weiterer Folge kriitisiert er dann die konstruktivistische Erlanger Schule um Lorenzen, Kamlah, Mittelstraß und geht besonders auf die von mir hier vor kurzem besprochene Einführung von H. Seiffert ein. Dass die Kritik an diesem Ansatz (vor allem an den „unhintergehbaren“ Handlungsformen, aus denen dann erste Begriffe abgeleitet werden, die von einer „idealen“ Forschergemeinschaft geschaffen nicht mehr mit Fug und Recht kritisiert werden können) selbstredend ins Schwarze trifft, steht außer Frage. Bei Seiffert allerdings erscheint Hinterbergers Kritik ein wenig kindisch (wenn er etwa dessen als „Protokollaussage“ interpretierten Satz „Der Himmel ist blau“ als unwissenschaftlich deklariert). Ja, das ist er – aber das dürfte auch Seiffert gewusst haben. Er wollte offenkundig nur den Unterschied zwischen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Aussagen herausarbeiten, weshalb eine inhaltliche Analyse fehl am Platze ist**. (Was nichts daran ändert, dass es mit Protokollaussagen so seine Schwierigkeiten hat und diese auch niemand mehr als letztbegründende Instanz in Anspruch nimmt.) Des weiteren ist Hinterbergers Nachweis, dass Seiffert antirealistisch argumentiert, in unverständlicher Weise umständlich und kompliziert, da Seiffert bei seiner Defintion von „Gegenstand“ („Gegenstand ist das, was er (der Philosoph, Wissenschaftler) mit einem Wort seiner Sprache bezeichnet“) ganz explizit die „Lösung aller ontologischen Probleme“ im Auge hat und dies auch kundtut. Andererseits legt Hinterberger den Finger in die sprachanalytische Wunde des Konstruktivisten (oder auch Konventionalisten): Da sie von jedem Wirklichkeitsbezug absehen, weiß man im Grunde nie, wovon sie sprechen – womit jede Unterhaltung etwas Beliebiges hat. Wenn dem Schimmel oder weißen Pferd nicht eine Realität entspricht – worüber spricht dann der Konstruktivist, wenn er diesen Terminus gebraucht? (Ähnlich bei konventionalistischen Wahrheitstheorien: Wenn nicht irgendwann irgendwie (über ein Experiment, eine Beobachtung) ein Bezug zur außersprachlichen Realität aufgebaut wird, fehlt jede Grundlage. Ohne Experimente (oder die Wirklichkeit) würden etwa Duhems konventionalistische Ideen im luftleeren Raum befinden.)

Der nächste Kritikpunkt ist die induktionsbasierte Wahrscheinlichkeit Seifferts, die dieser zur Grundlage wissenschaftlicher Aussagen machen will (wobei: Mir schien das keine ernstzunehmende Methodologie, sondern eher eine Beschreibung der Sprechweise über Wissenschaft). Da sich Seiffert der Unsicherheit von Allaussagen bewusst ist, versucht er diese in „teils-teils“-Sätze abzuändern, die außerdem noch einen zeitlichen Bezug enthalten. Sodass man als „wissenschaftliche“ Aussagen Sätze der Art bekommt: „Von allen bisher beobachteten Schwänen waren 95 % weiß und 5 % schwarz“, woraus sich dann wahrscheinlichkeitsbasierte Aussage über die Zukunft ableiten lassen würden (allerdings mit sehr eingeschränktem Aussagewert, da man nichts über den Untersuchungszeitraum, die mögliche Repräsentativität etc. weiß). Aussagen wie die zuvor zitierte sind aber mitnichten falsifikationsfähig (wie Hinterberger meint), da sie eine bloße Feststellung über ein stattgefundenes Ereignis enthalten. Denn jedes zukünftige Ereignis (das Auffinden weiterer schwarzer oder weißer (oder gar roter oder blauer) Schwäne würden an dem ursprünglichen Satz nichts ändern, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein gewisser Anteil an schwarzen oder weißen Schwänen gefunden worden ist. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus handelt es sich um eine Beobachtungs- und keine Gesetzesaussage, die bestenfalls für die Kritik einer Allaussage verwendet werden kann. Aber gerade daran, dass solche Sätze nicht falsifizierbar sind, kann man ihre Belanglosigkeit in Bezug auf wissenschaftliche Forschung erkennen: Ihre prognostische Aussagekraft ist gleich Null.

Seifferts Ausführungen sind, selbst wenn sie methodologisch interpretiert werden sollten, eine Auseinandersetzung nicht wert – und schon gar kein eigenes, umfangreiches Kapitel (ich selbst habe sein Buch als eine Darstellung des konstruktivistischen Denkens verstanden und es mit großem philosophiehistorischen Interesse gelesen (wie etwa die Vorsokratiker), hingegen keinen Augenblick daran gedacht, sie als ernstzunehmende Grundlage für das wissenschaftliche Forschen zu betrachten). Wobei Hinterberger allerdings sogar dort, wo Seiffert im Recht ist (dass z. B. Existenzaussagen nicht falsifizierbar sind), ihm zu widersprechen wünscht (sie seien es, wenn man das Gebiet auf einen bestimmten Bereich begrenzen würde). Eine solche Begrenzung aber ist natürlich Unfug; wollte man auch für Allaussagen eine solche raum-zeitliche Beschränkung einführen, würden sie ihre Sinnhaftigkeit verlieren. Existenzaussagen sind nicht falsifizierbar.

Bezüglich der Voraussageproblematik habe ich auch Zweifel, ob Hinterbergers Analyse (so richtig sie prinzipiell sein mag) den tatsächlichen Seiffertschen Trick klar macht. Denn Seiffert möchte Prognosen von absoluter Sicherheit und behauptet dann (mit Recht), dass eine solche nicht erreichbar sei. Wobei sein Trick darin besteht, stets die menschliche Komponente einzubeziehen (so behauptet er, dass z. B. ein Taifun nicht in all seinen Einzelheiten vorausgesagt werden könne, weil dadurch, dass die Menschen von diesem Ereignis erfahren, sie entsprechende Maßnahmen treffen und damit die Vorhersagen konterkarieren würden). Das ist schlicht das, was Popper die self-fullfilling prophecies nennt in einer Variante, die auch sämtliche naturwissenschaftliche Experimente prinzipiell verunmöglicht. Indem ich den menschlichen Faktor insofern ins Experiment einbeziehe, als ich stets sagen kann, dass, wenn sich der Forscher nicht dazu entschließt, das Experiment durchzuführen, er auch keine entsprechenden Ergebnisse erhalten wird. Es läuft darauf hinaus, dass ich einfach die Antecedensbedingungen ändere (bzw. immer ändern kann, sofern es sich um keine Retrodiktion handelt) und dann demjenigen, der von der Richtigkeit der Vorhersage überzeugt war, die Zunge zeige. Das scheint mit aber bestenfalls eine wissenschaftstheoretische Variante für den Kinderspielplatz zu sein: Antecedensbedingungen gehören neben Gesetzen schlicht dazu, um Prognosen erstellen zu können. In einem hat Hinterberger allerdings Recht: Es sind die sprachphilosophischen Bocksprünge, die dann zu solchen Weisheiten wie „wenn ich das Experiment nicht mache, werde ich kein Ergebnis erhalten, daher kann ich das Ergebnis nie mit Sicherheit prognostizieren“ führen, wobei hier natürlich auch der Sicherheitsaspekt (bzw. die gewünschte Letztbegründung) eine der Ursachen für diese ganze Unsinnigkeit darstellt. Allerdings lohnt es sich wirklich nicht, darüber allzu viel Worte zu machen. (Ich möchte hier noch mal betonen, dass ich die Meinung Hinterbergers in vieler Hinsicht teile, auch wenn dies hier nicht zum Ausdruck kommen sollte. Er macht nur manchmal den Eindruck, als ob ihm die Kritik eigentlich nicht kritikwürdiger Meinungen besonderen Spaß machen würde: Eine Art Suche nach einem Erfolgserlebnis, indem man 5jährige verprügelt.)

Zum Abschluss referiert Hinterberger schließlich die ausgezeichnete Analyse Gunnar Anderssons zu den Inkommensurabilitätsthesen eines Kuhn oder Feyerabend (nicht nur, denn Andersson hat auch einige logische Erklärungen zu den Falsifikationen beigetragen, die hier Erwähnung finden und die in ihrer Klarheit beispielhaft sind). Aber auch hier gilt wie in den anderen Teilen des Buches, dass man mit dem Original eigentlich besser bedient ist: So wartet man vergebens auf eigenständige Überlegungen – und auch das bloße Referieren der Position Anderssons wirkt auf Dauer ermüdend. Aber es motiviert den Leser, zu den Originaltexten zu greifen.


*) Kurz zusammengefasst ist Freges Gedankengang folgender: Zahlzeichen müssen von ihrer Bedeutung unterschieden werden. Daher wird man den Ausdrücken 2, 1 + 1, 3 – 1, 6 : 3 usf. dieselbe Bedeutung zuschreiben. Daher besteht etwa auch die Lösung der Gleichung x² = 4 nur in den beiden Wurzeln 2 und – 2, nicht aber in unzähligen anderen Werten wie etwa 1 + 1 etc. Das Kantsche Beispiel ließe sich so auf den Satz von der Identität zurückführen.

**) Außerdem weist Seiffert im Text selbst explizit darauf hin, dass dieser Satz (Der Himmel ist blau) nur unter bestimmten Voraussetzungen als wissenschaftlich bezeichnet werden könne und nimmt eigentlich die von Hinterberger geäußerte Kritik damit vorweg (Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie I, S. 70)

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