Georg Büchners Œuvre ist äusserst schmal. (Seine Werke und Briefe füllen gerade mal einen Band, 800+ Seiten, in der Hanser-Ausgabe, die ich besitze. Und davon sind rund ein Drittel Anmerkungen.) Und von diesem schmalen Œuvre ist das Drama Leonce und Lena eines der schmalsten Teile – es umfasst in meiner Ausgabe knappe 40 Seiten. Es hat aber den nicht zu verachtenden Vorteil, einigermassen „fertig“ zu sein, kein Fragment – weshalb auch der zugehörige Anmerkungsteil proportional schmal ist. Büchner schrieb das Dramolett für einen Wettbewerb – reichte es aber zu spät ein und kam nur schon deswegen ums erhoffte Preisgeld. (Der Verlag, Cotta, schickte das Manuskript-Paket ungeöffnet zurück.)
Wenn Büchner in Woyzeck die Leiden des kleinen Mannes schildert, so schildert er in Leonce und Lena sozusagen die des grossen. Wenn Woyzeck eine Tragödie ist, ist demnach Leonce und Lena eine Komödie.
Ort der Handlung ist ein nicht näher definiertes Duodez-Fürstentum in Deutschland – genannt Popo. Die Handlung selber ist rasch zusammengefasst: Leonce, der Prinz und Thronfolger, soll heiraten, standesgemäss natürlich – Lena, die Prinzessin von Pipi. Sein Vater will ihm nach der Heirat die Regierungsgeschäfte übergeben. Leonce will weder heiraten noch regieren, büxt von zu Hause aus und trifft unterwegs auf die ebenfalls vor der Heirat ausgebüxte Lena. Ohne anfänglich um die Identität des jeweils anderen zu wissen, verlieben sich die beiden ineinander. Sie lassen sich als Stellvertreter von Leonce und Lena auf dem Schloss trauen, ihre eigentliche Identität wird entdeckt und – Happy Ending.
Die Hauptfiguren des Dramas sind Leonce und – nein, nicht Lena. Lena ist im Grunde genommen nur ein verträumtes Mädchen, das vor der dynastischen Heirat zurückschreckt, weil es romantisch ist und an die grosse Liebe glaubt und daran, dass es auf der Strasse von einem fahrenden Ritter gefunden und von der ungeliebten Heirat gerettet wird. Absurderweise geschieht genau das. Nur, dass ihr rettender Ritter auch der prospektive Mann ist, vor dem sie davongelaufen ist.
Leonce ist der Mann mit dem Spleen, der Melancholiker. Schon seine ersten Worte auf der Bühne verraten seine Interessen- und Antriebslosigkeit:
Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu tun, ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. – Sehen Sie, erst habe ich auf den Stein hier dreihundertfünfundsechzigmal hintereinander zu spucken. Haben Sie das noch nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigne Unterhaltung. Dann – sehen Sie diese Handvoll Sand? Er nimmt Sand auf, wirft ihn in die Höhe und fängt ihn mit dem Rücken der Hand wieder auf. – Jetzt werf ich sie in die Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Körnchen hab ich jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? – Wie? Sie wollen nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben Sie an Gott? Ich wette gewöhnlich mit mir selbst und kann es tagelang so treiben. Wenn Sie einen Menschen aufzutreiben wissen, der Lust hätte, manchmal mit mir zu wetten, so werden Sie mich sehr verbinden. Dann – habe ich nachzudenken, wie es wohl angehn mag, daß ich mir auf den Kopf sehe. O, wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eins von meinen Idealen. Mir wäre geholfen. Und dann – und dann noch unendlich viel der Art. – Bin ich ein Müßiggänger? Habe ich jetzt keine Beschäftigung? – Ja, es ist traurig …
Wenn Baudelaire den Spleen „fashionable“ gemacht und dem Poète maudit zugewiesen hat, so ist Büchner strenger. Melancholie kann sich bei ihm nur der Reiche leisten, der per definitionem ein Müßiggänger ist. In dieser Passivität verharrt Leonce mehr oder weniger das ganze Stück hindurch – ironischerweise selbst dann, als er vor der geplanten Heirat ausreisst.
Die andere Hauptfigur aber ist Valerio. Zu Beginn des Stücks trifft er zum ersten Mal auf Leonce. Weil er perfekt auf dessen Spleen eingehen kann, erwirbt er in kürzester Zeit sein Vertrauen und beendet das Stück als prospektiver Staatsminister. In Valerio konvergieren viele Figuren, echte wie fiktive. Man denkt sofort an Goethes Karriere in Weimar, aber auch der Hanswurst aus der Commedia dell’Arte stand Gevatterschaft, und die grosse Schar der „Side-Kicks“ der Weltliteratur, die an weltlicher Schlauheit ihre Patrons übertreffen – von Sancho Pansa bis hin zu Schoppe/Leibgeber. Der Leibgeber des Siebenkäs, notabene, nicht der, der zuletzt im Titan verrückt wird. Valerio ist der Intellektuelle, der mit (Wort-)Witz die gesellschaftliche Situation unterminiert, um Änderungen herbei zu führen. So lautet sein Schlusswort (und das Schlusswort des Dramas):
Und ich werde Staatsminister und es wird ein Dekret erlassen, daß wer sich Schwielen in die Hände schafft unter Kuratel gestellt wird, daß wer sich krank arbeitet kriminalistisch strafbar ist, daß Jeder der sich rühmt sein Brod im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion!
Ich habe schon dümmere Wahl- und Regierungsprogramme gehört…
Valerio ist, nebenbei gesagt, nicht der einzige, der mit Wortwitz auf eine im Grunde genommen unerträgliche Situation reagiert. Das Volk hat in diesem Stück mit seinem Blick von oben nach unten konsequenterweise nur eine Statistenrolle inne. Die Bauern z.B. sollen da stehen und die freudige Bevölkerung bei der Trauungszeremonie markieren. Aufgestellt und „dirigiert“ werden sie vom Schulmeister. Der wiederum muss dem Landrat Red‘ und Antwort stehen:
LANDRAT. Lieber Herr Schulmeister, wie halten sich Eure Leute?
SCHULMEISTER. Sie halten sich so gut in ihren Leiden, daß sie sich schon seit geraumer Zeit aneinander halten. Sie gießen brav Spiritus in sich, sonst könnten sie sich in der Hitze unmöglich so lange halten. Courage, ihr Leute! Streckt eure Tannenzweige grad vor euch hin, damit man meint, ihr wärt ein Tannenwald, und eure Nasen die Erdbeeren, und eure Dreimaster die Hörner vom Wildbret, und eure hirschledernen Hosen der Mondschein darin. Und merkt’s euch: der hinterste läuft immer wieder vor den vordersten, damit es aussieht, als wärt ihr ins Quadrat erhoben.
LANDRAT. Und, Schulmeister, Ihr steht vor die Nüchternheit.
SCHULMEISTER. Versteht sich, denn ich kann vor Nüchternheit kaum noch stehen.
LANDRAT. Gebt acht, Leute, im Programm steht: ›Sämtliche Untertanen werden von freien Stücken reinlich gekleidet,[139] wohlgenährt und mit zufriedenen Gesichtern sich längs der Landstraße aufstellen.‹ Macht uns keine Schande!
SCHULMEISTER. Seid standhaft! Kratzt euch nicht hinter den Ohren und schneuzt euch die Nase nicht, solang das hohe Paar vorbeifährt, und zeigt die gehörige Rührung, oder es werden rührende Mittel gebraucht werden. Erkennt, was man für euch tut: man hat euch grade so gestellt, daß der Wind von der Küche über euch geht und ihr auch einmal in eurem Leben einen Braten riecht
Was oberflächlich lustig daher kommt, hat bei Büchner halt dann doch einen sehr gesellschaftskritischen Hintergrund. Noch einmal Valerio zur damaligen Sitation in Deutschland:
Das ist ein Land wie eine Zwiebel: nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln: in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts.