Platon: Timaios

Timaios wird in allen mir bekannten Aufzählungen (so auch bei Zeller und bei Gomperz) zu Platons Spätwerk gezählt; in meiner Ausgabe figuriert der Text in den Spätdialogen 2. Neben Stilkritik, Wortanalyse und Verweisen innerhalb des Korpus von Platons Werken ist es vor allem das zunehmende Zurücktreten der Hauptfigur Sokrates und der zunehmende Verzicht auf eine echte Dialog-Form, von dem diese Einteilungen gesteuert werden. Nur schon auf Grund der beiden letzten Kriterien ist Timaios ganz klar den Spätwerken zuzuorden:  Ausser einer kurzen Eröffnung und einem noch kürzeren Schlussteil finden wir kein Gespräch; Sokrates ist zwar unter den Gesprächsteilnehmern, hat aber bestenfalls die Rolle eines Moderators und Diskussionsleiters inne, nicht die des hartnäckigen Fragers, der jede Antwort seines Gesprächspartners wiederum in Frage stellt, bis sich herauskristallisiert, dass weder der Befragte noch der Befrager eine befriedigende Antwort wissen.

Denn Antworten gibt es in Timaios, und wie! Doch der Reihe nach. Zu Beginn des Textes erleben wir Platon nochmals als gewieften Literaten. Man erhält den Eindruck, dass da vier Herren von rechts aus den Kulissen treten, und wir die Fortsetzung eines schon länger dauernden Gesprächs zu hören bekommen. Vor ein paar Tagen oder Wochen haben die vier offenbar einem Vortrag gelauscht (ob er von Sokrates gehalten wurde, bleibt offen), der vom idealen Staat handelte. Eigentlich waren sie ja fünf: Sokrates, Timaios, Kritias, Hermokrates und einer, der heute fehlt und nicht namentlich genannt wird. (Da Timaios als Auftakt einer Trias von Dialogen geplant war, dessen zweiten Teil der unvollendete Kritias darstellt, dessen dritter wohl Hermokrates heissen sollte, vermute ich, dass hier der Literat Platon einen kleinen Coup plante, indem diese vierte Person, wer es auch immer hätte sein sollen, am Ende des Hermokrates in irgendeiner Form auftauchen und ein Résumée ziehen sollen hätte.)

Die vier treten aus den Kulissen, und schon rasch wird es ihnen im Gespräch klar, dass die Ausführungen jenes Redners ergänzt und korrigiert werden müssten. Die Teile der Rede, die referiert werden, beweisen, dass der Unbekannte den idealen Staat so dargestellt hat, wie es Platon selber in seinem Werk Der Staat (oder Die Republik – je nach Übersetzung) getan hat, Platon sich also offenbar nun selber korrigiert. Nach einigem Herumtasten wird zunächst Kritias die Sage von Atlantis erzählen, als einen Mythos, der in seiner Familie tradiert worden sei. (Kritias lebte von 460-403 vor unserer Zeitrechnung und war ein athenischer Philosoph und Politiker aus gutem Hause. Timaios der Lokrer hingegen ist historisch nicht gesichert; die Hinweise auf seine Existenz lassen sich alle auf Platons Dialoge zurückführen. Hermokrates schliesslich war Staatsmann und Feldherr zu Syrakus.)

Kritias, und nicht Sokrates, ist es dann, der die weiteren Aufgaben verteilt: Zuerst soll Timaios die Entstehung der Welt vorstellen, dann werde er selber – den Atlantis-Mythos weiter ausführend – den idealen Staat skizzieren und Hermokrates soll den Abschluss machen. Womit Hermokrates abschliessen soll, wird nicht erklärt; ich vermute, dass der Feldherr nach so viel Theorie die Praxis der Politik zu Worte kommen lassen sollte. Sokrates bleibt die Rolle des Zuhörers. Damit verlassen wir den literarischen, den dialogischen Teil des Timaios – von nun an wird der Namensgeber des Textes ex cathedra über die Entstehung der Welt dozieren.

Und wahrlich! – Timaios fängt ab ovo an. Der Gott, der den Demiurgen schuf, weil er selber nur Vollendetes schaffen konnte und weil Seiendes kein Werdendes schaffen kann; erst der Demiurg kann den Kosmos als Abbild der Ideen schaffen, die Welt als wohlgeordnetes System von verschiedenen kugelförmig um einander drehenden Sphären, alle beseelt; der auch die untergeordneten Götter schuf, weil nur die Unvollkommenes schaffen konnten, Unvollkommenes wie den Menschen. Die Materie besteht aus rechtwinkligen Dreiecken, die (quasi als Atome) sich wiederum zu andern Körpern zusammenfügen, aus denen (quasi als Molekülen) die Elemente entstehen: das Tetraeder ist dem Feuer eigen, das Oktaeder der Luft, das Ikosaeder dem Wasser und der Würfel der Erde. Der Demiurg kann die verschiedenen Elemente noch nicht ins Unreine mischen, das können erst die untergeordneten Götter, die so den Menschen schaffen. Oder, um genau zu sein: den Mann. Ein Mann allerdings, der nicht gut und rechtschaffen gelebt hat, wird es erleben, dass seine unsterbliche Seele (denn alles ist in diesem System mit einer unsterblichen Seele versehen!) in den Körper einer – Frau disloziert wird. Wenn er ganz böse war, in den Körper eines Tiers oder gar einer Pflanze. Eine umgekehrte Abstammungslehre…

Platon entpuppt sich im Alter als Pythagoräer, als betriebsblinder Pythagoräer sogar. Das Gewicht, das er nun auf Mathematik und Geometrie legt, mag noch hingehen. Aber selbst eklatante Widersprüche dieser Lehre werden nicht thematisiert. Der fünfte ideale Körper, das Dodekaeder, ist keinem Element zugeordnet. Warum nicht? Fehlten Platon die Element, die er ja einer älteren Elementenlehre entnommen hatte? Die Frage, die jeder Fussballer dem Timaios stellen könnte – wie denn nun das Eckige ins Runde komme, wie denn nun der kugelförmige Kosmos die Dreiecke in sich aufnehmen könne, ohne irgendwo leeren Raum zu haben (was nach Timaios nicht möglich ist) – diese Frage wird selbst von Sokrates nicht gestellt.

Alles in allem also eine Lektüre für Philosophiehistoriker. Denn der Timaios wurde – via eine allerdings wenig verbreitete Übersetzung von Cicero und mit viel aristotelischer Physik vermengt – in der Scholastik noch diskutiert. Vor allem versuchte man natürlich, die platonische Kosmogonie mit der biblischen Genesis in Übereinstimmung zu bringen. Für die heutige Philosophie aber ist dieser Text Platons mit Sicherheit wenig relevant.

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Seit über einem Vierteljahrhundert lese ich Platon in der sog. Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag, herausgegeben von Olof Gigon, übertragen von Rudolf Rufener, erschienen 1974 bei Artemis in Zürich. Gigon hat zu jedem der sieben Textbände ein Vorwort verfasst.

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