Noch hat der Herausgeber Schiller sein Pulver nicht ganz verschossen – auch wenn es im Forum Mitleser gibt, die diese Nummer der Horen als „langweilig“ bezeichnet haben. Ich finde, dass sie immer noch weit über dem zu erwartenden Durchschnitt liegt und sogar echte Schmuckstücke vorzuweisen hat.
Dazu gehört zwar Herr Lorenz Stark. Ein Charaktergemälde von Johann Jacob Engel nicht unbedingt. Wir sind auf den Autor schon im Frühjahr, im dritten Stück der Horen, gestossen. Die kurze Erzählung hier weist den Nachteil auf, dass sie zu Beginn inhaltlich ins selbe moralintriefende Horn zu stossen scheint, in das Goethe in seinen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten bereits gestossen hat. Selbst der Stil ähnelt Goethes Kurialsstil, und der geneigte Leser fühlt sich schon sehr ungeneigt mit der Lektüre fortzufahren. Das sollte er aber, denn Inhalt und Ton ändern rasch. Weg geht es von der Geschichte eines gerechten, in sich ruhenden Vaters, der seinem Sohn vom Leben Mores beibringen lässt, hin zu einem wirklichen Charaktergemälde, in dem der Vater recht bedenkliche Wesenszüge aufzuzeigen beginnt, und dem Leser die Revolte des Sohns zusehends verständlich wird. Auch stilistisch schreibt sich Engel, vor allem in den Dialogen, frei; und so übertrifft diese Erzählung vieles, was mittlerweile in den Horen so an Prosa publiziert wurde. Ganz grosse Literatur ist es nicht, aber wenn die Horen nur schon dieses Niveau hätten halten können…
Warum, statt eines „Fortsetzung folgt“ (das wird sie nämlich), auf der letzten Seite zuunterst noch ein Zweizeiler Herders angeklebt wurde, entzieht sich allerdings der Ratekunst des Lesers. Der rauschende Strom ist eine dieser gesucht pointierten Allerweltswitze, die wir ansonsten aus den Xenien von Goethe und Schiller kennen. (Auch der andere Zweizeiler Herders, das ganz am Ende dieser Nummer figurierende Leukotha’s Binde, versifiziert einen Gemeinplatz. Warum die vier Zeilen in diese Nummer aufgenommen wurden, entzieht sich dem Verständnis des Lesers.)
Pallas-Athene. Von Proklus ist die Übersetzung eines neuplatonischen Textes. Als Übersetzer fungiert Johann Gottfried Herder. Proklos lebte im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung und stellte während rund einem halben Jahrhundert das Oberhaupt der Akademie in Athen dar. Seine Hymnen sind ein Versuch, die antike Götterwelt in die neuplatonische Form der Frömmigkeit überzuführen, indem die alten Götter entsprechend (um-)interpretiert werden. In einer Fussnote gleich zu Beginn der Übersetzung vermisst Herder das Archaische eines Homers, ohne Proklos allerdings daraus einen Vorwurf zu machen.
Dies ist umso interessanter, als dass Herder (wir überspringen zunächst Schillers Elegie) in einem weiteren Stück sich mit Homer und Ossian auseinandersetzt. Das Thema mag heute weniger interessieren. Es war aber seinerzeit weltweit eines der brennenden Themen der Literatur und Literaturkritik, und die Horen finden sich so für einmal mitten in einer aktuellen – und fast unpolitischen – Diskussion wieder. Ossian, die ab 1760 erscheinende geniale Fälschung des James Mcpherson, der angab, aus dem Munde alter Mütterchen Reste eines alten, gälischen Epos vernommen, zusammengestellt und übersetzt zu haben. Kein Wunder, stürzte sich der erwachende Nationalgeist der Epoche auf solche angeblichen Fragmente, die beweisen würden, dass auch die alten nordischen Völker eine der antiken griechischen ebenbürtige Dichtkunst vorzuweisen gehabt hätten. Herder, selber Kind des Nordens und Liebhaber der Volksdichtung, war von Ossian fasziniert. Im vorliegenden Artikel verlässt er Homer als Massstab recht schnell. Immer und immer wieder drehen sich seine Gedanken darum, dass doch Macpherson Beweise für die Echtheit seiner angeblichen Überlieferung bringen solle. Man spürt aus dem Aufsatz heraus, wie gern doch Herder an die Echtheit des Ossian geglaubt hätte – und wie sehr er doch im Innersten daran zweifelte. Denn der sensible Literaturkritiker spürte wohl nur zu gut, dass Ossian viel zu wenig archaisch war, viel zu romantisch, um echt sein zu können. Vielleicht war ja der Grund in der Haltung des grossen Kritikers Samuel Johnson zu suchen. Johnson hatte schon früh den Ossian als unecht erkannt, das Kind aber mit dem Bade ausgeschüttet, indem er gleich die ganze gälische Überlieferung als unecht bezeichnete und die gälische Sprache als eine Sprache von Barbaren. Das musste Herder, den Liebhaber von Volksdichtung, natürlich empören und misstrauisch machen, auch da, wo Johnson Recht gehabt hätte.
Zwischen den beiden Aufsätzen Herder steht, wie gesagt, noch die Elegie Schillers. Schiller ist so wenig Lyriker wie Goethe Prosa-Autor, und damit ist schon alles gesagt über das wie eine Hausaufgabe eines Gymnasiasten wirkende Gedicht.
Goethe kein Prosa-Autor? Da ist allerdings der Höhepunkt dieser Nummer – und einer der Höhepunkte im Prosa-Schaffen Johann Wolfgang von Goethes: Das Mährchen. Es handelt sich um die in der vorhergehenden Nummer der Horen versprochene Weiterführung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
Zwar: Stände da nicht im Untertitel (zur Fortsezung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.), wir würden es nicht dafür halten. Der Himmel weiss, welcher Dämon Goethe da geritten hat – weg ist der moralinsaure Inhalt der bisherigen Erzählungen des Pastors, weg auch der Kurialstil. Generationen von Germanisten und Germanistinnen haben versucht, in dieses Märchen einen Sinn zu bringen – herrlich sinnlos kommt es an der Oberfläche daher. Hinweise auf dies oder jenes in Goethes Leben und Denken Wichtige kommen zur Genüge vor, aber man kann das Stück auch einfach so lesen. Innerhalb von Goethes Werk wie innerhalb der Unterhaltungen ist das Märchen ein Fremdkörper. In den Unterhaltungen sieht man das sehr schön: Keine einleitenden Vorbemerkungen mehr, als da hätten sein können, dass sich die Ausgewanderten des Abends wieder treffen, der Pastor sich bequem hinhockt und sein Pfeifchen anzündet, keine ausleitenden Schlussbemerkungen. Der Novellenzyklus bricht mit diesem Märchen ab, wie wenn Goethe realisiert hätte, dass er danach nichts mehr bringen konnte, ohne den Zauber zu zerstören.
1 Reply to “Die Horen. Jahrgang 1795. Zehentes Stück”