Tacitus, von dem wir wenig Genaues wissen – nicht wirklich seinen Vornamen, weder das genaue Geburtsdatum noch den genauen Geburtsort, weder genaues Sterbedatum, noch genauen Sterbeort, nicht die genaue Ämterlaufbahn und bei den Ämtern nicht genau, wann und wo er sie inne hatte; nicht genau, ob er (wahrscheinlich ja) ein homo novus im Senat war, d.h. der erste seiner Familie, der aus dem Ritter- in den Senatorenstand aufgestiegen war – dieser höchst Unbekannte hat einige der bekanntesten Geschichtswerke über das Römische Reich verfasst. Er stammte wohl aus Provinzadel und ist schon früh nach Rom gekommen um den dortigen cursus honorum (die Ämterlaufbahn) zu durchlaufen. Plinius der Jüngere war sein jüngerer Freund, und deshalb wissen wir, dass Tacitus ca. 58 zur Welt gekommen und nach 120 gestorben ist.
Dieser Mann, von dem wir selber so wenig Geschichtliches wissen, gilt heute als der römische Geschichtsschreiber. Das war nicht immer so, erst die Humanisten haben den zu seiner Zeit rasch Vergessenen wieder entdeckt. Tacitus, selber Senator, steht für die typisch senatorische Form der römischen Geschichtsschreibung – die Form also, die aus der Sicht und vom Standpunkt des römischen Senats verfasst wurde. Tacitus war bei weitem nicht der einzige Senator, der sich der Geschichtsschreibung widmete; das Abfassen von römischen Staatsgeschichten galt als beinahe einzig zugelassener seriöser Zeitvertreib für einen Senator. Aber Sueton, nur wenig jünger als Tacitus, führte eine Geschichtsschreibung in Form des Verfassens von (Kaiser-)Biografien ein, wurde damit rasch populär, und hat die senatorische Form der Verfassung von Annalen (Jahresberichten) für lange Zeit aus der Rezeption des Publikums verdrängt.
Die Historien von Tacitus sind nur unvollständig überliefert. Was wir haben, beschäftigt sich fast ausschliesslich mit dem sog. ‚Vierkaiserjahr‘, dem Jahr 69, das in rascher Abfolge vier Kaiser an der Spitze des römischen Staats sah: Galba, Otho, Vitellius und Vespasian. (Die Historien hätten dann noch weiter gehen sollen, sicher bis zu Domitian – diese Teile sind verloren – eventuell gar bis in Tacitus‘ Gegenwart, bis zu Trajan. Andeutungen im Text lassen auf solche Pläne schliessen, aber die Geschichte nach Domitian hat Tacitus wahrscheinlich doch nicht geschrieben.) Tacitus ist kein unpersönlicher oder unparteiischer Beobachter; er nimmt Stellung und wertet. Er wertet aus senatorischer Sicht; so ist Domitian schon vor seiner Inthronisierung als Schurke dargestellt, im Gegensatz zu seinem Bruder Titus. Der Grund dafür liegt weniger im tatsächlichen Verhalten (Domitian war als Herrscher nicht besser oder schlechter als sein Bruder), sondern darin, dass Titus als Kaiser in allem, was er begann, immer auch den Senat in seine Entscheidungen einbezog, während Domitian dieses Gremium zu umgehen pflegte. Die Einstellung des Schriftstellers Tacitus zum Menschen Domitian wundert um so mehr, als der Senator Tacitus unter dem Kaiser Domitian seinen cursus honorum ungerührt fortsetzte, ja wohl sogar von ihm in die höchsten Ämter berufen wurde, und unter Trajan dann nur noch ernten musste, was er unter Domitian gesät hatte.
Es mag sein, dass Tacitus sich selber nicht als besser empfand, wie den Rest Roms. Weder sind die vier Thronprätendenten Muster menschlichen Verhaltens – unter allen, auch unter dem am positivsten gezeichneten Vespasian, finden bei der Eroberung Roms allgemeine Blutbäder statt – noch ist der Senat eine positive Kraft in Rom. Wankelmütig, mehr ums eigene Überleben (und ums gute Überleben!) besorgt, als um den Staat, erheben seine Mitglieder jeweils den auf den Thron, der gerade mit dem Schwert in Form von Truppen vor ihnen steht und ihnen droht. Und das Volk? – Solange es nicht gerade selber hingeschlachtet wird, schaut es am Strassenrand zu, wie wenn die einfallenden Truppen Teil eines Gladiatorenkampfs im Zirkus wären.
Nein, die Welt des Tacitus ist keine schöne. Man sagt ihm nach, das Prinzipat (die Regierung durch Kaiser) abgelehnt zu haben und ein Anhänger der alten Republik gewesen zu sein. Ich wage das zu bezweifeln. Zu wankelmütig und imbecil sind senatus populusque dargestellt, als dass es den Anschein erweckt, er würde in diese so leicht manipulierbare Masse irgendein, auch nur nostalgisches, Vertrauen setzen.
Selbst die in seinem Werk Germania hoch gelobten Germanen kommen in den Historien nicht gut weg. Die germanischen Söldner, auf die das Römische Heer zusehends angewiesen ist, benehmen sich kein Haar besser als die Römer, sind ebenso beeinflussbar und wankelmütig, mal feige, mal blutrünstig – wie es sich in der jeweiligen Situation gerade so ergibt. Dasselbe gilt für die gallischen Legionen. Alle Soldaten sind im Grunde genommen darauf erpicht, dass ihre ganz persönlichen Wünsche im Zentrum des Römischen Reichs stehen sollen – im wahrsten Sinn des Wortes ohne Rücksicht auf Verluste.
Tacitus war sich dessen bewusst, dass bei aller inneren Zerrissenheit das Römische Reich gegen aussen die Rolle des Weltpolizisten und Weltbefrieders zu spielen hatte. Er verwendet zur Rechtfertigung dieser Rolle (bzw. lässt seine Protagonisten sie verwenden) dieselbe Rhethorik, die in allen folgenden Jahrhunderten bis heute verwendet worden ist, um einem eroberten und zwangsweise in den eigenen Staat, die eigene Machtsphäre, eingegliederten Volk dessen Unterwerfung schmackhaft zu machen: die innere Befriedung und den Schutz gegen aussen. Keiner der Weltpolizisten seither und bis heute hat je anders argumentiert, nicht Kipling, nicht Bush noch Obama, nicht Putin noch Stalin. Ich denke, dass schon Tacitus sich der Perversion in dieser Argumentation nicht bewusst war. Nur, dass die innere Instabilität auch zu Unruhen an den Grenzen führte, wird von Tacitus immer wieder schmerzlich in Erinnerung gebracht.
Es war also, denke ich, dem Realpolitiker Tacitus klar, dass das römische Weltreich nicht durch einen wankelmütigen Senat und ein noch wankelmütigeres Volk regiert werden konnte. Im Grunde sah er wahrscheinlich das Heil des Römischen Reichs in einer Regierung des besten Alleinherrschers – einem System, in dem der Kaiser seinen Nachfolger durch Adoption selber bestimmte. Er unterschätzte dabei die Einsamkeit dieses Alleinherrschers auf seinem Thron, die bewirkt, dass der so rasch und so leicht auf Schmeicheleien hereinfällt – und dann halt eben doch den Falschen adoptiert.
Nein, Tacitus wird froh gewesen sein, unter Trajan, mit dem das neu eingeführte Adoptions-System gerade ein hervorragendes Resultat geliefert hatte, einen halbwegs friedlichen Lebensabend verbringen zu können; und sein Menschenbild muss wenig erbaulich gewesen sein.
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