Joseph Roth: Hiob

Stilisiertes Potraitfoto von Joseph Roth. - Ausschnitt aus Buchcover.

Joseph Roth gehörte ebenfalls zu denen, die in den 1930ern vor den Nationalsozialisten flüchten mussten. Er war Jude. Während viele Schriftsteller in dieser Zeit den Kampf gegen die Nationalsozialisten in den Vordergrund ihres Werkes stellen, finden wir bei Roth erstaunlich wenig darüber. Dabei war er keineswegs ein unpolitischer Autor. Aber, wenn wir den Zeitraum betrachten, in dem die meisten und die wichtigsten seiner Werke angesiedelt sind, müssen wir zum Schluss kommen, dass für Roth der Zerfall der Weltordnung bereits mit dem Ersten Weltkrieg angefangen hatte. Spätestens mit dem Tod des österreichischen Kaisers Franz-Joseph I. ging die alte Weltordnung vor die Hunde. Irreparabel, was ihn, Roth, betraf: 1939 brachte er sich im Pariser Exil, schwer alkoholkrank, ebenfalls um, nachdem er die Nachricht vom Selbstmord Ernst Tollers erfahren hatte.

Thematisch also rückwärts gewandt, und dennoch in der aktuellen Zeit verankert und diese immer mit beschreibend. Auch sprachlich lässt sich Roth auf keine Experimente ein. Das brauchte er nicht; seine Sprachgewalt war und ist beeindruckend. Und natürlich verfasst er seine Romane nicht in einem Einheitsjargon. Wenn man z.B. beim Roman Hiob genau hinhört, wird man spüren, wie subtil Roth hier die Sprache dem Thema angepasst hat, wie unaufdringlich und doch klar dem biblischen Thema eine biblische Sprache unterlegt wird.

Hiob also. Joseph Roths Hiob stammt aus einem osteuropäischen Stetl:

Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer.

Zuchnow ist ein fiktiver Ort in Wolhynien – damals zu Russland gehörend, heute läge er in der Ukraine. Mendel Singer ist kein reicher Patriarch wie der biblische Hiob. Er ist Lehrer, bringt den Sechsjährigen des Stetl das Lesen bei und ein paar biblische Sprüche. Sein Schulzimmer ist seine Küche, zugleich der einzige Raum seines Hauses. Seine Klasse besteht aus ungefähr zwölf Knaben, deren Väter ihn für den Unterricht bezahlen. Davon kann er ein bescheidenes Leben führen, zusammen mit seiner Frau Deborah und den drei Kindern. Das heißt, bald werden es vier sein; Deborah ist zu Beginn des Romans gerade schwanger.

Das vierte Kind aber, der dritte Junge, ist ein Problem: wachstumsgestört und offenbar blödsinnig. Die Diagnose eines vorbei fahrenden Arztes lautet auf Epilepsie. Vielleicht könnte er in der großen Stadt geheilt werden – aber Mendel Singer hat kein Geld dafür. Mit Menuchim, so heißt der Junge, kommt auch Unfrieden ins Haus. Deborah konzentriert all ihre Liebe auf den Kranken; der Mann und die übrigen Kinder fühlen sich zurückgesetzt. Die drei Kinder versuchen einmal, den Blödsinnigen in einer Regentonne zu ertränken. Lange drücken sie ihn unter Wasser, bis er sich nicht mehr rührt. Doch als sie los lassen, taucht Menuchim wieder auf, prustend, hustend und spuckend. Die andern drei packt das Grauen. Von da an lassen sie ihn in Ruhe.

Die Jahre vergingen. Die beiden älteren Söhne waren nun soweit, dass sie zum Militär eingezogen werden konnten. Wie es der Teufel wollte, wurden sie in ihrer Stadt beide dazu ausgelost. Während Jonas, der Älteste, gerne gehen wollte, fand die Familie für Schemarjah, die Nummer zwei, eine Möglichkeit, ihn über die nahe Grenze zu Polen zu schmuggeln und von dort nach ‘Amerika’ reisen zu lassen. Es war die Zeit des russisch-japanischen Kriegs. Jonas musste an die Front und verscholl dort. Mirjam, die einzige Tochter, war zu einer heißblütigen jungen Frau herangewachsen. Ihr intimer Umgang mit einem Kosaken aus der benachbarten Garnison – eigentlich mit mehreren Kosaken – bereitete den strenggläubigen Eltern Probleme. Sie sahen nur eine Lösung: Die Familie musste weg, fort von Zuchnow. Nach New York, zu Schemarjah, der sich unterdessen gemeldet hatte und der in dieser Stadt gerade unter dem Namen Sam die klassische Tellerwäscherkarriere hinlegte.

Aber was tun mit Menuchim, dem blödsinnigen Jüngsten? Deborah wollte ihn nicht verlassen, da ihr ein Wunderrabbi verheißen hatte, wenn sie nur lange genug bei ihm bliebe, würde er gesund. Doch mitnehmen konnte man ihn auch nicht. Schließlich ließ man ihn unter der Obhut einer Nachbarsfamilie zurück. Mendel, Deborah und Mirjam reisten ab. Noch lange sollte das Wort Mama!, das einzige, das Menuchim je sprechen gelernt hatte, in Deborahs Ohren klingen.

In New York angekommen, ließ sich zunächst alles gut an. Sam war unterdessen bereits Miteigentümer eines gut laufenden Kaufhauses. Mirjam konnte dort als Verkäuferin arbeiten, den Eltern zahlte er eine kleine Wohnung. Dann kam der Erste Weltkrieg. Jonas blieb nach wie vor verschollen. Schließlich traten die USA in den Krieg ein. In einem Anfall von Patriotismus für seine neue Heimat meldete sich Sam freiwillig zum US-Militär.

Auch wenn er später sagen sollte, dass schon die Geburt des blödsinnigen Sohnes Menuchim der Moment gewesen sei, wo ihn der Böse zum ersten Mal geschlagen habe, so ist der eigentliche Zusammenbruch von Mendel Singers Welt auf den Zeitpunkt anzusetzen, wo er erfährt, dass sein Sohn Sam gefallen ist. Am Schock (und wohl auch daran, dass sie sich die Schuld gab an den Ereignissen, weil sie damals wider besseres Wissens ihren Menuchim im Stetl zurück gelassen hat) stirbt Mendels Frau, Deborah. Dies wiederum führt dazu, dass Mirjam, die mit Sams Freund und Geschäftspartner Mac verlobt war, ihrerseits den Verstand verliert. Jonas ist immer noch verschollen.

Erst in diesem Moment übernimmt der arme Mendel die Rolle des reichen Hiob. Er hatte im Vergleich zu letzterem wenig, aber auch dieses wenige wurde ihm genommen. Mendel flucht seinem Gott.

Nun hat der biblische Hiob am Ende der Geschichte die Gnade seines Gottes wieder erfahren. Auch Mendel wird noch einmal erhoben im Ansehen der Menschen. Nachdem er jahrelang ein einfaches Leben als simple Hilfskraft bei befreundeten Juden in New York verbracht hat, erfährt er eines Tages, dass ein junger Musiker auf Durchreise nach ihm suche. Lange Rede, kurzer Sinn: Dieser junge und erfolgreiche Dirigent mit eigenem Orchester, der durch die USA tourt, ist niemand anderes als der geheilte Menuchim.

Happy Ending wie bei Hiob? Ich weiß nicht. Es gibt da ein paar Dinge, die mich irritieren. Zum einen – darauf habe ich schon oben angespielt – der Umstand, dass Joseph Roths Hiob nicht das Format seines biblischen Vorbilds hat. Er ist arm, bescheiden und nicht der hellste. Dann der Umstand, dass Roth mit der Geschichte des Menuchim eine andere biblische Geschichte in die von Hiob mischt: die des verkauften und verratenen Joseph, der zum Schluss im Exil eines fremden Landes der Ernährer jener wird, die ihn verrieten und verkauften. Und dann sind da noch die letzten Sätze des Romans:

Während sie sich langsam schlossen, nahmen seine Augen die ganze blaue Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber und die Gesichter der neuen Kinder. Neben ihnen tauchten aus dem braunen Hintergrund des Porträts Jonas und Mirjam auf. Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder.

Und ich frage mich: Schläft Mendel Singer wirklich ein? Oder ist es nun seinerseits er, der – von der Größe der Wunder überwältigt – stirbt?

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