Hermann Burger: Schilten

Schilten! – Rückblickend will es mir scheinen, dass dieser Roman bei seinem Erscheinen 1976 in der Welt der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft eingeschlagen habe wie eine Bombe. Zumindest in der Schweiz. Wenn ich es mir genauer überlege, muss ich zugeben, dass meine Wenigkeit allerdings mit der Lektüre zuwarten konnte, bis eine Buchklub-Ausgabe erschienen war. Vor ein paar Jahren führten wir zu diesem Roman eine Leserunde in unserem Forum durch – damals stellte ich fest, dass mir die Buchklub-Ausgabe abhanden gekommen war, ohne dass ich sie all die Jahre wirklich vermisst hätte. Ich legte mir also die gerade bei Nagel & Kimche neu erschienene Ausgabe (abermals) zu. Jetzt habe ich das Buch zum dritten Mal gelesen – in einer dritten Ausgabe, der der achtbändigen Werksedition nämlich.

Schilten – Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz

Schon der Titel macht klar, dass Burger einmal mehr seine literarische Lieblingsform verwendet: den Briefroman in Form eines längeren Rechtfertigungsberichts an eine höhere Instanz. Schildknecht, das Ich des Berichts, ist Lehrer an einer kleinen Dorfschule in der tiefsten Aargauer Provinz. Er ist der einzige Lehrer, und seine Klasse umfasst alle Alterstufen. Schildknecht arbeitet nicht nur im Schulhaus; er hat auch eine Wohnung daselbst unter dem Dach. Non vitae, sed scholae discimus – selten hat einer Senecas Aussage ernster genommen als Burger-Schildknecht-Stirner. Nicht nur fallen beim Schweizer Leben und Schule de facto zusammen: Das Schulhaus liegt gleich neben dem Friedhof der Gemeinde, und so werden Lehrer und Schüler auch tagtäglich mit dem Tod konfrontiert. Schildknecht nimmt das zum Anlass, nicht Lebens- oder Heimatkunde zu unterrichten, sondern Todes- und Friedhofskunde. Vor allem der Scheintod in allen Varianten wird gelehrt, aber auch sonst besteht der Unterricht vor allem darin, dass Schildknecht seine Klasse minutiös alle Bewegungen des Friedhofgärtners und seines Faktotums beobachten lässt, alle Bewegungen auch der Friedhofbesucher. Nur die eigentlichen Beerdigungen können die Schüler nicht beobachten, denn an diesen Tagen fällt die Schule aus, ist doch die Turnhalle zugleich Abdankungshalle, der Lehrer Organist an der Abdankungsfeier.

Jean Pauls verschrobene Schulmeister lassen grüssen. Sprachlich und stilistisch, in der Wahl der Kapitelüberschriften (die ähnlich wie bei Jean Paul eine scheinbar rein zufällige, durch äussere Umstände bedingte Einteilung ist – bei Burger in jene an jeder Schule zu Hauf verwendete Quarthefte), in der Anhäufung unnützen Wissens (bei Burger die sog. Friedhofskunde). Zwar wird Jean Paul nirgends erwähnt, von einer Anspielung auf die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, einmal abgesehen. Aber dem Germanisten Burger war er zweifelsohne ein Begriff.

Burgers Protagonisten ähneln ein bisschen den verschrobenen Gestalten, wie sie zu ungefähr derselben Zeit der gleichaltrige Gerold Späth vorstellte, in Unschlecht (1970) oder Balzapf (1977). Allerdings weisen Späths Figuren nicht die Tiefe, ja Bodenlosigkeit der Burger’schen auf. Auch sind Burgers Figuren nur geistig verschroben, äusserlich sieht man ihnen nichts an – wie der Provinzler so schön sagt, wenn er sich selber ob der Ungeheuerlichkeit solcher Vorkommnisse zu beruhigen sucht.

So haben wir also als Fluchtpunkt dieser Burger’schen Provinz einmal mehr den Tod. Die einzige Perspektive, die real ist. Denn bei aller detaillierten Schilderung dieser Provinz, mit ihren Verkehrsverbindungen (Bahn und Postauto), die schon innerhalb der Fiktion Schilten nicht-existent sind, die sich bei genauem Hinsehen (z.B. die Geschichte der Bahnverbindung in jenes Tal an dessen äusserstem Ende Schilten liegt) als schrullige Mischung von Dichtung und Wahrheit erweisen: diese Provinz, dieses angebliche Leben für die Schule, das Schildknecht führt, wird selbst innerhalb der Fiktion als Fiktion aufgedeckt. Der Zauberkünstler Burger gibt (scheinbar!) seinen Trick preis, indem zum Schluss des Romans der immer wieder angeredete Schulinspektor seinerseits das Wort ergreift und das ganze Schulleben Schildknechts zur Illusion eines Übergeschnappten erklärt. In Tat und Wahrheit haben nicht die Eltern ihre Kinder klammheimlich von Schildknechts Unterricht abgezogen, sondern ihm wurde die venia legendi (sozusagen) schon vor längerem ganz offiziell entzogen – die Rechenschaft, die Schildknecht ablegen zu müssen glaubt, wird von ihm gar nicht verlangt. Jean Paul hat mit seinem Schoppe-Leibgeber die die idealistische Philosophie eines Fichte ad absurdum geführt; Hermann Burger tut es ihm mit seinem Schildknecht-Stirner nach. Beide literarischen Figuren wird der Wahnsinn packen ob ihrer eigensinnigen Setzung des Ich. Dabei ist Burger allerdings der ironisch-realistischere. Jean Pauls Salto zurück in den Glauben will er nicht mitmachen. Schilten ist eine Provinzposse, die sich nur im Hirn des Protagonisten Stirner abspielt – eines andern Einzigen mit einem andern einzigen Eigentum.

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