Sehen wir einmal von den unzähligen Umschriften der beiden chinesischen Zeichen 老子 für den Autor und dem gleichen Problem auch für die Bezeichnung des Textes einmal ab – die sind verwirrend genug. Aber noch verwirrender ist der Umstand, dass Lao-Tse ziemlich sicher gar nicht existiert hat. Endgültig verwirrt wird man sein, wenn man die (auch von mir benutzte) Übersetzung von Richard Wilhelm liest. Sie ist zwar über 100 Jahre alt, aber immer noch im Handel erhältlich. Dabei ist sie nicht ganz problemlos – und dies nicht nur, weil Wilhelm sich in seinem Nachwort überzeugt gibt, dass Lao-Tse wirklich gelebt habe und der vorliegende Text von ihm (also einer einzigen Person) stamme. Schwieriger wird es durch den Umstand, dass Wilhelm von Haus aus Missionar war und nicht Übersetzer. Kein Wunder also, ist er auch davon überzeugt, dass Lao-Tses Philosophie monistisch sei. Gleichzeitig spricht er aber von einer im Tao te King anzutreffenden Dialektik, und es fehlt nicht viel, dass er den sowieso schon zitierten Hegel zu einem genuinen Nachfolger des alten Chinesen macht. Er übersetzt Tao mit SINN und schreibt das Wort als Übersetzung immer mit Kapitälchen; Te heißt bei bei ihm immer LEBEN, ebenfalls immer in Großbuchstaben. Auf ersteres kommt er in Anlehnung an die Übersetzungsversuche, die Goethes Faust liefert für den Beginn des Johannes-Evangeliums; letzteres bezieht sich zwar nicht auf Faust I, aber immer noch auf den Anfang des Johannes-Evangeliums. Sinn, als Sinn der höchsten Wirklichkeit ist zwar, wenn ich das recht verstehe, eine mögliche Übersetzung des Tao, aber Leben für eine Art Charakterstärke des Individuums verwestlicht bzw. ‚verchristianisiert‘ den alten chinesischen Text dann doch zu sehr. Darauf wird man Rücksicht nehmen müssen, wenn man zu Wilhelms Übersetzung greift.
Der Text selber stellt eine Sammlung sentenzenhafter Aphorismen dar, oft in Versform, keine eigentliche philosophische oder religiöse Abhandlung. Die heutige Sinologie ist der Meinung, dass nicht einmal alle Teile aus derselben Epoche stammen. Sie können sich im Detail widersprechen, auch wenn sie im Großen dasselbe ausdrücken. Der Name des Urhebers bedeutet auf Deutsch einfach „Alter Meister“ und könnte sogar ein Plural sein, denn diesen Unterschied kennen die chinesischen Substantive nicht. Hinter aller Mystik (und auch Verformung durch Buddhismus und Konfuzianismus) dieser alten Meister verbirgt sich der Gedanke, dass ein jedes Ding Ausdruck einer davon unabhängig (und rein) existierenden Idee ist. Daher stammt auch der Gedanke, dass moralisch gutes Handeln darin besteht, Rücksicht zu nehmen, zurück zu weichen. Das gilt für den Krieg ebenso wie für die Politik im Allgemeinen. Während bei der Beschreibung der militärischen Taktik selbst Wilhelm nicht anders kann als an fernöstliche Kampfsportarten zu denken, die den Gegner bzw. die Gegnerin besiegen, indem sie ausweichen und das Gegenüber durch den eigenen Schwung zu Fall lassen kommen, hält er sich mit Kommentaren zum politischen Handeln zurück. (Dass er überhaupt nach China gehen konnte, um dort die Einheimischen zu missionieren, verdankte er ja der aggressiven Kolonialpolitik der Kriegsgurgel Wilhelm II.)
In den Aphorismen empfiehlt Lao-Tse einer Staatsmacht, sich bei der Ausübung ihrer Aufgaben möglichst zurück zu halten. So ist es nicht verwunderlich, dass ihn schon Kropotkin (später auch Le Guin) als einen Proto-Anarchisten betrachtet. Da die diesbezüglichen Aussagen des Tao te King allerdings recht vage bleiben, ist es eben so wenig verwunderlich, dass der Text auch von Rechtsliberalen in Anspruch genommen wird. Beides sind geistesgeschichtliche Interpretationen; die politischen Verhältnisse im alten China boten weder für die eine noch für die anderen Haltung fruchtbaren Boden.
Womit es eigentlich schon gesagt ist: Es ist uns, im (heute im so genannten) ‚Westen‘, fast nicht möglich, Lao-Tse (oder Konfuzius, quant à ça) ohne im Grunde unzulässige Vergleiche zu verstehen. Selbst Chinesen bekunden mit der alten Sprache, den alten Schriftzeichen, Mühe. Genauer gesagt: Lao-Tse ist auch für sie nicht mehr lesbar. Um ihn zu verstehen, griff Wilhelm zum Behelfsmittel, das ihm am nächsten Liegenden zur Basis seiner Vergleiche herzunehmen – den christlichen Glauben. Heute, wo uns diese Basis nicht mehr selbstverständlich scheint, sehen wir die Verformungen, die Wilhelm dadurch dem Text zufügte. Vielleicht verstehen ja all die, die eine der vielen fernöstlichen Kampfsportarten ausüben, das Tao te King besser als die reinen Stubenhocker? Denn das scheint mir klar zu sein: Die Alten Meister strebten keine reine Theorie an. Ihr Tao war eine Lebensform.