Volker Weidermann: Mann vom Meer

Auf hellblauem Grund, in grün-blau, eine in sechs Streifen geschnittene Fotografie einer Meeresbrandung. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Halb Essay, halb Roman, halb Biografie – so in etwa würde ich das vorliegende Buch von Volker Weidermann beschreiben. Der Autor ist ja bekannt für solche Bücher, und Kollege scheichsbeutel hat in unserm Blog schon deren zwei vorgestellt: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen über die Münchner Anarchisten sowie früher schon Ostende über Zweig und Roth. Und heute also von mir dieses Buch hier über Thomas Mann.

Du wirst, geneigtes Publikum, beim Nachrechnen oben festgestellt haben, dass dieses Buch drei Hälften umfasst. Genau das ist das Problem, das ich damit habe. Die beiden Aperçus von scheichsbeutel klangen sehr positiv, aber ich kann dem für dieses Buch hier nicht ganz zustimmen. Weidermann, will mir scheinen, wollte dieses Mal zu viel. Auch wird er für meinen Geschmack hin und wieder auch zu pathetisch – mag sein, dass er dies, wie seine Liebe zu Thomas Mann, tatsächlich ebenfalls vom im Nachwort erwähnten Reich-Ranicki hat. Auch der konnte ja, wenn ihm etwas sehr gefiel oder ganz und gar nicht gefiel, einen ungeheuer pathetischen Ton anschlagen.

Das Buch beginnt nur indirekt mit Thomas Mann. In der Einleitung treffen wir als allererstes auf die Tochter Elisabeth. Zusammen mit Vater, Mutter und dem Brüderchen Michael reisen sie im Nachtzug nach Travemünde. Dort will der Vater ihr das Meer vorstellen – an genau jener Stelle, an der er es selber als kleines Kind kennen gelernt hat. Kennen gelernt und lieben gelernt. Sie weiss von dessen Begeisterung und hat Angst, sie nicht genügend teilen oder auch nur dem Vater vorspielen zu können. Die Angst erweist sich als unbegründet; auch Elisabeth wird vom Meeres-Virus angesteckt wie ihr Vater. Nebenbei bemerkt wirft dieser kurze Ausschnitt aus Elisabeths Erinnerungen auch ein sehr bezeichnendes Licht auf Thomas Mann als Vater, aber darauf geht Weidermann nicht ein.

Denn nicht Thomas Mann als Vater ist das große Thema dieses Buchs sondern Thomas Manns Liebe zum Meer. Eine Liebe, die in diesem Buch immer auch verbunden wird mit seinen großen Lieben zu Menschen – allesamt gemäß Weidermann homosexueller Natur. Hinzu kommt eine gewisse Todessehnsucht Thomas Manns. Eros und Thanatos, die Liebe und der Tod, gehören für den jungen Mann zusammen und sind beide wiederum eng mit dem Meer verbunden. Weidermann zeigt das an vielen Beispielen aus Thomas Manns Werk auf (vor allem natürlich aus den Buddenbrooks, aber er interpretiert auch das Nahtod-Erlebnis Hans Castorps in einem Schneesturm im Zauberberg zu einem Meereserlebnis um).

Eng verknüpft mit diesem Themenkreis wird in diesem Buch auch Thomas Manns nationalkonservative Gesinnung jener Zeit. Bezeichnenderweise sind wir schon fast am Ende des Buchs, als sich Thomas Mann – auch unter dem Druck äußerer Ereignisse und eigentlich schon zu spät – endlich dazu durchringt, die Weimarer Republik zu anerkennen und akzeptieren. Damit endet aber auch Manns große Liebe zum Meer, enden seine Reisen ans Meer (vor allem die Ostsee). Erst unter dem Einfluss des erstarkenden Faschismus kehrt er sich von der alten Position ab – und es ist vielleicht bezeichnend, dass das Werk, das diese Abkehr von Nationalismus und Faschismus schildert, noch einmal mit dem Meer zu tun hat: Mario und der Zauberer. Wenn er dann im Exil in den Vereinigten Staaten von seinem Haus schwärmt, ist es nicht mehr die Nähe zum Meer, die ihm gefällt – er lobt nun vielmehr das warme und sonnige Klima, in dem es steht.

Bis weit über sein 40. Lebensjahr hinaus aber beschäftigt sich Mann immer und immer wieder mit dem Thema von Eros und Thanatos. Castorp wird nach Weidermann auch deshalb zu einer seltsamen Zwittergestalt, weil Mann bei der Beendigung des Romans unterdessen über diese Dichotomie hinausgewachsen war, aber von der Anlage des ganzen Romans aus früheren Zeiten her seinen Protagonisten doch sterben lassen musste. So geht er nun – aus dem Plot heraus im Grunde reichlich unmotiviert – mit dem wilhelminisch-nationalkonservativen Reich unter.

Das 40. Lebensjahr als Wendepunkt, als Moment, in dem Thomas Mann endlich erwachsen wurde, zeigt sich in diesem Buch auch an der Art, wie Thomas Manns Familie vorkommt. Bis hin zu diesem Wendepunkt werden die übrigen Geschwister Elisabeths nur als die Kinder bezeichnet, wo sie überhaupt aufscheinen. Michael wird nur zwei oder drei Mal erwähnt – jedes Mal nur als der jüngere Bruder von Elisabeth, der halt auch mitgeschleppt wird. Mit dem Wendepunkt verschwindet einerseits Bruder Heinrich und tauchen andererseits nun auch die ältesten Kinder namentlich auf – Erika und Klaus. (Immerhin spielten sie eine nicht unwichtige Rolle, als es darum ging, Thomas Mann zu überzeugen, Deutschland endgültig zu verlassen – und zwar nicht nur in die Schweiz, wo er unterdessen wohnte, sondern den Kontinent, auf dem Deutschland lag.) Auch Golo greift zwei Mal entscheidend in des Vaters Leben ein: Das erste Mal, als er die in München zurückgelassenen Tagebücher seines Vaters vor dem Zugriff durch die Nazis rettet und nach Zürich bringt; das zweite Mal, als er die vierzehnjährige Elisabeth, die stur darauf beharrt hatte, die Schule in München zu beenden, aus dem Land holte, nachdem sie festgestellt hatte, dass in den Sommerferien dort alles geändert hatte. Einzig Monika wird nie erwähnt.

Mit Thomas Manns exzessiver Liebe zum Meer endet auch dieses Buch. (Genauer gesagt endet es mit der Schilderung eines Besuchs des Autors Weidermann auf dem nach Elisabeth Mann Borgese benannten Forschungsschiff des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung. Für Weidermann schließt sich so der Kreis.) Wir finden hier also ‚nur‘ eine Darstellung der ersten Lebenshälfte Manns – die Zeit, in der er seine ganz, ganz großen Romane (die Josephs-Tetralogie, Doktor Faustus, Der Erwählte) schreiben sollte, würde noch kommen. Wir haben hier gewissermassen nur den ‚jungen‘ Mann vor uns, und es ist für Thomas Mann auch bezeichnend, dass diese Phase erst mit rund 40 Jahren enden sollte.

Alles in allem sicherlich nicht uninteressant, aber nicht ganz, was ich erwartet hatte – weder im Ton noch im Inhalt. Ich an Weidermanns Stelle hätte für dieses Buch ja statt Mann vom Meer einen anderen Titel gewählt: Der junge Mann und das Meer …


Volker Weidermann: Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023. Gelesen in der Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg.

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