Goethe, wie wir wissen, hat nie ein Buch mit dem Titel Maximen und Reflexionen verfasst. Sicher, er hat die darin enthaltenen Sprüche und Gedankensplitter niedergeschrieben – manchmal auch nur abgeschrieben, ohne das im Übrigen speziell zu kennzeichnen. Das war ganz im Sinne seiner Altersphilosophie. Was ihm, seinem Wesen und Denken, entsprach, konnte assimiliert werden und wurde zu einem Teil seiner selbst, seines eigenen Denkens. Um ein Alterswerk handelt es sich bei diesem Buch denn auch.
In seinen spätesten Jahren pflegte Goethe nämlich solche Gedanken auf spezielle Blätter zu notieren – Blätter, die ihrerseits an einem speziellen Ort hinterlegt wurden. Diese Gedanken waren Goethe wichtig genug, aufgeschrieben und aufbewahrt zu werden, aber entweder fühlte er, dass sie als kurze Aperçus (er verwendet diesen Ausdruck mehrfach für seine Notate) schon abgerundet und ‚fertig‘ waren, oder er sah ein, dass er keine Zeit mehr hatte, alle seine Ideen noch ausführlich zu entwickeln. Einiges zog er aus bereits bestehenden Werken, anderes – vor allem die ganz späten Aperçus – schrieb er extra für diese Sammlung nieder. Gerade diese sind es dann auch, die oft nur noch fragmentarisch überliefert sind. Goethe sah wohl, dass da etwas Interessantes vergraben lag, konnte aber den Schatz nicht mehr heben.
So kam es dann, dass er in einem Gespräch mit Eckermann diesem folgenden Auftrag gab: Es bleibt jetzt weiter nichts, als daß Sie bei Herausgabe meines Nachlasses diese einzelnen Sachen dahin stellen, wohin sie gehören. Ein sehr vager Auftrag, der denn auch im Lauf der Jahre von verschiedenen Herausgebern seiner Werke verschieden interpretiert wurde. Goethes direkte literarische Nachlassverwalter, Eckermann und Riemer, deuteten ihn so, dass sie 1833 aus den Notizen einen eigenen Band in der Abteilung der nachgelassenen Werke zimmerten, den sie Maximen und Reflexionen nannten. 1840 erweiterten sie die Sammlung und nannten sie Sprüche in Prosa – ein nichtssagender und trockener Titel, der sich denn auch nicht durchgesetzt hat. Mit jeweils immer leicht anderer Auswahl sind dem verschiedene spätere Herausgeber gefolgt – mit Ausnahme der Weimarer Ausgabe, die den Auftrag Goethes so auslegte, dass sie die Aperçus dort (wieder) einfügte, wo sie gemäß jeweiliger Kapitelüberschriften hingehörten oder gar herkamen. Die Weimarer Ausgabe kennt also gar keine Maximen und Reflexionen. 1907 wurde der seither etablierte Umfang von etwa 1400 Sprüchen erreicht. Der Herausgeber, Max Hecker, wandte sich darin von der Aufsplitterung in der Weimarer Ausgabe ab. Er behielt die von Goethe selbst zusammengestellten und zum Druck gebrachten Gruppen bei und schloss die Sprüche aus dem Nachlass in einem zweiten Teil daran an. Dieser Umfang (mit etwas über 1400 Sprüchen) und diese Gliederung wurden in den meisten modernen Goethe-Ausgaben beibehalten.
So haben wir in den Maximen und Reflexionen eine Art Übersicht vor uns, was Goethe im hohen Alter beschäftigte, worüber er nachdachte und was er über gewisse Dinge dachten. Es sind hier keine maximes im La Rochefoucauld’schen Sinne zu finden, keine auf Pointe zugespitzten Beobachtungen und Bemerkungen zum menschlichen Verhalten. Dafür ist Goethe nicht Zyniker genung und dafür sind einerseits die Lebenswelten des französischen Herzogs und Pair de France aus dem 17. Jahrhundert und die des baronisierten Verwaltungsbeamten eines kleinen deutschen Staates an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu verschieden, andererseits waren auch Goethes Interessen bedeutend weiter gesteckt als die des Franzosen. Kunst (man kann aus den Maximen und Reflexionen die ganze Kunsttheorie des alten Goethe destillieren – seine Beschäftigung mit den Begriffen des Genie ebenso wie mit dem des Naiven, dem er einen völlig anderen Sinn gab als seinerzeit Schiller, den er schon fast zu einer Art Realismus umdeutete; das Sentimentalische hingegen, das nicht seinem Wesen entsprach, ließ er links liegen) wird ebenso besprochen wie zum Beispiel die Naturwissenschaften (allen voran die Physik und die Optik – noch immer beklagt sich der alte Mann darüber, wie seiner Meinung nach reine Gewohnheit die Naturwissenschaftler seiner Zeit dazu verführt habe, Newton anzuhängen, statt die Phänomene unvoreingenommen zu studieren); und auch zu seiner Beschäftigung mit Kants Kritik der reinen Vernunft äußert sich Goethe (Kants Werk bestätigt seiner Meinung nach seine Art zu denken völlig). Last but not least sind auch literarisch-poetologische Überlegungen zu finden.
Ich will jetzt hier nicht den alten Goethe auslegen. Ich kann die Maximen und Reflexionen nur allen empfehlen, die sich für die letzten Jahre dieses Mannes interessieren jenseits des glatt polierten Bilds, das Eckermann in seinen Gesprächen überliefert hat. Denn hier können wir dem dort so fix-fertig und überlegt wirkenden Goethe noch beim Denken zuhören. Nicht zuletzt sind die Maximen und Reflexionen auch deshalb lesenswert, weil Goethe hier seinen Kurialstil, der seine mittlere Prosa verdorben hat, hinter sich gelassen hat.