Jules Verne: In 80 Tagen um die Welt

Jean Passepartout hat bereits ein recht aufregendes und abwechslungsreiches Leben hinter sich. Er ist aber noch immer ziemlich jung, als ihn das Verlangen nach einem ruhigeren Lebensstil überkommt. Diese Ruhe in seinem Leben will er in London finden, als Valet (oder, wie es später sein Kollege Jeeves formulieren würde: als a gentleman’s gentleman) bei einem der vielen reichen Junggesellen daselbst. Doch ganz so einfach ist das nicht: Er hat gerade seine Stelle gekündigt, weil sein Dienstherr zum wiederholten Mal nach einer durchzechten Nacht auf den Schultern der Hermandad nach Hause gebracht wurde. So kommt es ihm gerade recht, dass ein gewisser Phileas Fogg seinen aktuellen Kammerdiener entlassen hat, weil der ihm eines Morgens sein Wasser zum Rasieren mit einer Temperatur von 84° Fahrenheit gebracht hatte, statt deren 86°. Denn Phileas Fogg führt das Paradebeispiel eines ruhigen und regelmäßigen Junggesellen-Lebens. Jeden Morgen um die gleiche Zeit verlässt er nach dem Frühstück das Haus, um in seinen Club zu gehen. Dort liest er die Zeitungen und spielt seinen Whist. Mittag- und Abendessen nimmt er im Club ein, und Punkt Mitternacht ist er wieder zu Hause. Ein Traum für einen der Ruhe bedürftigen französischen Valet! Passepartout bewirbt sich um die frei werdende Stelle und erhält sie auch. Kurz nach dem Einstellungsgespräch geht Fogg wie jeden Morgen in den Club. Passepartout studiert den aufgehängten Zettel, auf dem seine Pflichten aufgezeichnet sind und die Uhrzeit, zu denen er sie zu erfüllen hat. Ein Leben völlig nach seinem Geschmack scheint sich vor Passepartout aufzutun.

Scheint, denn ausgerechnet an diesem Tag wird in Foggs Club darüber geredet, wie doch die Welt immer kleiner werde, weil die Transportmittel immer schneller und bequemer werden, und ein Disput erhebt sich darüber, wie viele Tage man an diesem 2. Oktober 1872 noch benötigen würde, um sie zu umrunden. Fogg insistiert darauf, dass dies in 80 Tagen möglich sein sollte und erhitzt sich über der Frage derart (auf britische Weise), dass er eine Wette eingeht. Abreise: sofort. Rückkehr: in 80 Tagen. Wettsumme: £ 20’000. Aus der Traum vom ruhigen Leben für Passepartout …

Ich werde nun aufhören, die Geschichte nachzuerzählen. Jede und jeder kennt sie; Phileas Foggs Reise um die Erde gehört zu den bekanntesten Romanen von Jules Verne. Das liegt zunächst natürlich am Thema. Der Roman erschien 1873; er erzählt also von den bereits existierenden technischen Wundern, die die Wette überhaupt möglich machen, allen voran der Suez-Kanal und eine durchgehende Eisenbahnverbindung durch die USA. Damit traf er sicher den Nerv seiner Zeit. Heute, wo uns die Technik faktisch erlaubt, die Erde in wenigen Stunden zu umrunden, weist dieser Aspekt allenfalls nostalgische Aspekte auf. Und die seitenlangen geografischen Erklärungen wirken oft wie aus dem Baedeker abgeschrieben und interessieren heute kaum. Interessant sind uns heute eher die Momente, in denen die Technik halt dann doch nicht funktioniert. Vor allem die Eisenbahn stellt für Fogg gleich zwei Mal nicht nur eine Beschleunigung dar, sondern gleichzeitig eine Behinderung – einmal, als die Linie quer durch Indien entgegen der Behauptungen der Zeitungen eben noch gar nicht fertig gebaut ist; das andere Mal, als bei der Linie quer durch die USA nicht nur eine Brücke in derart miserablem Zustand ist, dass der Zug sie eigentlich gar nicht mehr passieren dürfte, sondern auch ein paar Sioux den Zug attackieren und stoppen. (In beiden Fällen verschweigt aber Verne den kolonialistischen bzw. rassistischen Hintergrund der Ereignisse – oder nimmt sie gar nicht erst wahr.)

Der wichtigste Grund aber, warum das Buch heute noch beliebt ist, liegt wohl in den beiden Protagonisten. Mit Fogg und Passepartout sind Verne – und ich wage zu behaupten: zum ersten und einzigen Mal in seinem literarischen Leben – gleich zwei Charaktere gelungen, die Individuen darstellen, bei aller Exzentrizität liebenswürdige Gestalten, die Fleisch und Blut aufweisen. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und sind sich doch gleich im Willen ihr Ziel zu erreichen.

Keine hochstehende Lektüre zwar, mit deren Erwähnung man beim Small-Talk während des Apéro der literarischen Gesellschaft im Dorf glänzen wird. Aber die Geschichte zweier liebenswürdiger Sonderlinge aus einer Zeit, in der das Reisen gerade so richtig erfunden wurde.

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